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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Sinnbildhafte seines Tuns bewußt, holte der kleine Rabbi seine Hände unter dem Bart hervor und legte sie auf eine Gesetzesrolle. »In Fällen, in denen der Tod des Ehemannes weder bewiesen noch widerlegt werden kann, verlangen wir, daß fünfzehn Jahre verstreichen, ehe eine Frau als Witwe anerkannt wird.«
    »Er hat sie immer geschlagen. Soll sie fünfzehn Jahre auf ihn warten.?«
    »Bis die fünfzehn Jahre vorbei sind, bleibt Tirza eine verheiratete Frau. Das Gesetz sagt.«
    »Das Gesetz! Das Gesetz! Fünfzehn Jahre für eine Frau, die nichts Unrechtes getan hat.«
    »Bisher hat sie nichts Unrechtes getan. Wenn sie aber in der Sünde lebt. außerhalb des Gesetzes.«
    »Das ist uns gleich«, brüllte Jochanan und stand auf, so daß er den kleinen Rabbi wie ein Turm überragte. »Noch heute werde ich Tirza heiraten.«
    »Setz dich, Jochanan.« Ohne den Steinmetz auch nur zu berühren, zwang Rabbi Ascher ihn mit seiner ruhigen Stimme auf den Stuhl zurück. »Denke an Chananel und Lea! Er ging zur See, und das Schiff kenterte. Sechs Augenzeugen haben beschworen, daß er ertrunken sein müsse. Deshalb hat man gegen meinen Rat Lea erlaubt, wieder zu heiraten. Und fünf Jahr darauf kehrte Chananel zurück. Er war noch immer ihr Mann, und weil wir gegen das Gesetz des Allmächtigen verstoßen hatten, kamen zwei Familien ins Unglück.« Der kleine Gelehrte tat die Hände wieder unter seinen Bart, senkte die Stimme und fügte unheilverkündend hinzu: »Und Leas reizende Kinder wurden zu Hurenkindern erklärt. Du weißt, was das bedeutet.«
    Schweigen lag über dem engen Zimmer. Der störrische Meister sah unverwandt auf den Mann, der die Sprache auf den Allmächtigen gebracht hatte. Im Glauben, den Steinmetz überzeugt zu haben, wollte Rabbi Asciier ihm nun Trost bieten. »Der HErr ist nicht selbstsüchtig, Jochanan. Er versagt dir Tirza, aber Er hat Makor viele vortreffliche jüdische Frauen gegeben, die glücklich wären, einen Mann wie dich zu ehelichen. Schoschanna, Rebekka.«
    »Nein«, wehrte der Riese gequält ab.
    »Mit jeder von ihnen könntest du in Ehren eine Familie gründen.«
    »Nein!« wiederholte der Steinmetz und stand zum letztenmal auf. »Noch heute heirate ich Tirza.« Und bevor der kleine Rabbi weiterreden konnte, hatte Jochanan die Stätte des Gesetzes verlassen und stürmte in die Stadt, rannte durch die Straßen, bis er beim Haus des verlassenen Weibes Tirza anlangte. Er hob sie hoch in die Luft und rief: »Wir sind verheiratet.« In der Haustür stehend, schrie er auf die Straße hinaus: »Drei Männer von Israel, kommt und hört mich!« Und vor den Zusammenlaufenden hielt er einen goldenen Reif empor, den er einem griechischen Händler abgekauft hatte, und verkündete stolz: »Seht, die Witwe Tirza ist mir mit diesem Ring nach dem Gesetz des Mose und Israels angetraut.« Und so wurden sie Mann und Frau; Rabbi Ascher der Grützenmacher aber, der, am Rande der Menge stehend, zugeschaut hatte, wußte, daß sie nicht verheiratet waren. Bekümmert über die Halsstarrigkeit des Steinmetzen und seine unrechtmäßige Straßenhochzeit kehrte der Rabbi heim. Er wollte gerade sein Arbeitszimmer betreten, da verspürte er den ihm vorher gar nicht bewußten Wunsch, den Lärm und die Leidenschaften der Stadt hinter sich zu lassen und durch die
    Stille der Landschaft zu wandeln. Etwas verwirrt ob dieser Sinnesänderung schritt er den Hügel von Makor hinab zur Straße nach Damaskus. Hier langte er gerade an, als die Kavalkade der Kaiserin Helena in allem Glanz und Prunk nach Ptolemais aufbrach. Der kleine Jude stand beiseite, während die Reiter und Pferde, die Esel, die Sänften, die Soldaten und die bärtigen Priester nach Westen zogen, zum Hafen, wo ihr Schiff sie erwartete. Als alles vorüber war, machte Rabbi Ascher sich auf den Heimweg, da er über dem nicht alltäglichen Anblick seine Absicht vergessen hatte sich unter den Bäumen zu ergehen. Doch er hatte kaum ein paar Schritte getan, da war es ihm, als packe ihn jemand bei den Schultern und drehe ihn um, seinem ursprünglichen Ziel entgegen. Aber niemand war da.
    Doch der Rabbi folgte der Eingebung und wandelte unter den knorrigen Ölbäumen auf und ab. Seine besondere Aufmerksamkeit erregte ein Baum, so uralt, daß sein Inneres weggefault und nur ein hohler Stamm geblieben war, durch den man hindurchblicken konnte; doch immer noch war dieser Rest mit den Wurzeln verbunden, denn der alte Baum lebte, reckte seine Zweige und trug gute Frucht. Während

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