Die Quelle
langen Jahren aus der russischen Stadt Wodsch ausgewandert war. Viele dieser alten Männer waren damals mit ihm gekommen, manch andere inzwischen gestorben. Der berühmte Rabbi, ein kleiner uralter Mann, saß zusammengekauert für sich allein, in seinen Gebetsmantel gewickelt. Nur seine durchdringend blauen Augen blitzten aus seinem weißen Bart und seinen Schläfenlocken hervor. Man nannte ihn nur den Wodscher Rebbe, und hier war seine Synagoge. Noch auffallender war sein Synagogendiener, ein hochgewachsener, leichenblasser, zahnloser Mann, dessen schmutziger Kaftan mit dem vom Straßenkot steif gewordenen Saum kratzend über den Boden schleifte. Seine rissigen Schuhe knarrten. Seine Pelzkappe war von Motten zerfressen und schmierig. Als er Eliav und seine drei Gäste zu den
Bänken führte, flüsterte Eliav: »Wenn er Sie fragt, >Kohen oder Levi?<, antworten Sie >Volk<.« Kaum hatten sie alle Platz genommen, kam der erbarmungswürdig aussehende Synagogendiener angeschlurft und fragte: »Kohen oder Levi?« Die drei erwiderten: »Volk.«
Es ergäbe ein falsches Bild, wollte man sagen, daß nun ein geordneter Gottesdienst begann. Siebzehn Männer waren an diesem Morgen in der Synagoge, und jeder hielt seinen eigenen Gottesdienst; nur ab und zu, wenn ein besonderes Gebet zu sprechen war, stimmten sie gemeinsam ein, aber selbst dann sagten sie es mit siebzehnfach verschiedener Geschwindigkeit her, in einem mißtönenden Durcheinander. Während des Gottesdienstes schlurfte der Diener hierhin und dorthin, redend, schmeichelnd, sich aufdrängend. Und dort in einer Ecke saßen gar zwei alte Juden und besprachen ihre Geschäfte. Zwei andere beteten mit lauter Stimme, jeder seinem eigenen Rhythmus folgend, während der alte Rebbe -er muß unglaublich alt sein, dachte Cullinane - Gebete murmelte, die keiner verstehen konnte. »Ich bin schon in verschiedenen Synagogen gewesen, aber noch nie in so einer«, sagte Cullinane flüsternd zu Eliav. Der antwortete: »Sie brauchen nicht zu flüstern. Sprechen Sie ruhig lauter.« Cullinane erhob seine Stimme in dem Durcheinander und sagte: »Katholiken sollten eigentlich keine andere Kirche betreten.« Jetzt antwortete Zodman: »Dies hier ist keine Kirche. Es ist eine Synagoge.«
Mitten im Gottesdienst ging der alte Diener zu dem Schrein, in dem die Thora aufbewahrt wurde - jene fünf ersten Bücher der Heiligen Schrift, die Mose zugeschrieben werden. Als die mit Silberbeschlag verzierte Pergamentrolle herangetragen wurde, küßten die alten Männer sie voller Ehrfurcht. Der Diener trug sie zu einer Art Kanzel, wo ein Vorleser begann, die heiligen Worte zu rezitieren. Niemand hörte zu. Von Zeit zu Zeit forderte der Diener das eine oder andere Mitglied der Gemeinde auf, sich neben den Vorleser zu stellen - es ist eine Ehre, am Sabbat einen Abschnitt der Thora vorlesen zu dürfen. »Er holt zuerst einen Kohen, dann einen Levi und dann einen aus dem Volk«, sagte Eliav durch den Lärm. »Was sind Sie?« fragte Cullinane. »Das werde ich Ihnen später erklären«, antwortete er.
Schon war der Diener an Cullinanes Seite und zupfte Paul Zodman am Ärmel: Ganz offensichtlich, daß der Mann aus Chicago aufgefordert wurde, aus der Thora vorzulesen. Was für ein Tag für den Millionär! Tränen traten ihm in die Augen. Verwirrt blickte er auf Cullinane und Eliav, der ihn vorwärts schob. Zodman ging zu dem altersschwachen Pult des Vorbeters, wo dieser mit einem Silberstab die Wörter auf der Pergamentrolle anzeigte; Zodman schaute über die Schulter des Mannes auf die uralten hebräischen Zeichen. Erinnerungen an seinen Großvater wurden in ihm wach, der diese heiligen Worte rezitiert hatte, und an die kleine deutsche Stadt Gretsch, aus der er stammte. Die eintönigen Stimmen in der Wodscher Synagoge waren für ihn Stimmen der Erinnerung an seine Vorfahren, und als am Ende der Lesung der Diener Zodman auf Jiddisch fragte, wieviel er für die Synagoge spenden wolle, antwortete dieser mit leiser Stimme: »Zweihundert Dollar.«
»Sechshundert Lira«, rief der Diener den Betenden zu. Alle hielten inne und sahen zu Zodman hinüber, sogar der Rebbe. Der Amerikaner kehrte auf seinen Platz zurück und nahm schweigend weiter am Gottesdienst teil. Cullinane, aufgewachsen im strengen Formalismus des katholischen Gottesdienstes mit seinem großartigen liturgischen Wechselspiel zwischen priesterlichem Gesang und dem Antworten der ganzen Gemeinde, sah sich außerstande, das jüdische Ritual zu verstehen.
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