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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Eidechse doch essen könnte.« Als seine Studenten ihm entgegneten, dies sei aber wohl gotteslästerlich, erklärte Rabbi Ascher: »Wieder und wieder haben uns die großen Rabbinen daran gemahnt, daß der Allmächtige das heilige Gesetz, als Er es dem Mose offenbarte, in die Hände der Menschen gab, damit es auf der Erde gelte und nicht im Himmel. Die Thora ist, was sie unserer - eurer und meiner - Schwachheit Aussage nach ist, und falls der Heilige, gelobt sei Er!, einen Irrtum beging, als Er uns den Genuß der Eidechse verbot, so sollten wir ihn entdecken.« Er schlug mit den Händen auf den Tisch und rief: »Die Thora gilt nur auf Erden, in den Herzen der Menschen, und sie ist, was wir sagen, daß sie sei.« Er erzählte allen Studenten von jenem Tag, an dem der Prophet Elia auf die Erde zurückgekommen war und einem großen Disput unter den Rabbinen beigewohnt hatte. Angstvoll fragten sie ihn: »War der HErr zornig, als wir Sein Wort veränderten?« Elia aber antwortete ihnen: »Nein! Der HErr hat fröhlich in die Hände geklatscht und gerufen: >Meine Kinder haben Mich besiegt. Sie leben auf der Erde und kennen die Schwierigkeiten des irdischen Daseins. O Meine geliebten Kinder, seid stets so klug wie heute!<« Abermals erhoben die Studenten Einspruch: »Aber Ihr redet vom Allmächtigen, als sei Er ein menschliches Wesen, dabei sagtet Ihr erst gestern, Er sei Geist.« Nun donnerte der kleine Rabbi: »Selbstverständlich ist Er Geist. Er besitzt keinen Körper und keine Hände. Ich habe euch ein Gleichnis erzählt. Versteht es als solches!« Und er stapfte aus dem Zimmer, blieb in der Tür stehen und rief: »Morgen! Morgen bringt ihr mir hundert Gründe, warum Juden Eidechsen essen könnten.« Und leiser fügte er hinzu: »Stellt euch vor, vielleicht wird einer von euch in diesem kleinen Raum dieser kleinen Stadt den Irrtum des Allmächtigen berichtigen, und morgen abend wird der HErr wiederum in die Hände klatschen und rufen: >Abermals haben Meine Kinder Mich besiegt! Welch gesegnete Stadt ist doch Twerija!<«
    Der Rabbi hatte die Erfahrung gemacht, daß ein Mann, der gezwungen war, sich hundert ausgeklügelte Gründe für eine Verneinung eines Gebotes im Dritten Buch der Thora zurechtzulegen, sich in des HErrn innerstes Wesen versenken mußte. Und einige seiner Jeschiwa-Studenten brachten in der Tat scharfsinnige Antworten zustande: »Im Ersten Buch Mose heißt es, daß der HErr, nachdem Er alle Tiere erschaffen hatte und bevor Er den Menschen erschuf, Sein Werk ansah. Und es steht geschrieben: >Und Gott sah, daß es gut war.< Da Er Selbst nach der Erschaffung der Eidechse, aber vor der Erschaffung des Menschen dieses gesprochen hat, muß die Eidechse - an sich betrachtet, immer und ewig und unabhängig vom Menschen - gut gewesen sein. Und muß noch immer gut sein. Und deshalb darf sie gegessen werden.«
    Ein anderer Student argumentierte folgendermaßen: »Zuerst erschuf der Heilige, gelobt sei Er!, die Erde. Und wie ein Vater seinen Erstgeborenen am meisten liebt, so liebt der HErr Seine Erde vor allem. Von allen Tieren, die auf der geliebten Erde leben, preßt die Eidechse ihren Leib am engsten an die Erde und kann fern von ihr gar nicht leben. Deshalb ist sie der vom Allmächtigen geliebten Erde sogar näher als der Mensch, und als ein Teil der Erde muß die Eidechse gut sein, und also dürfen die Juden sie essen.«
    In einem Jahr brachte ein besonders gescheiter Student einen Beweis vor, der im Talmud festgehalten wurde: »Oft müssen wir zwischen zwei Vorschriften des HErrn wählen, die sich zu widersprechen scheinen. Hört also: In den Zehn Geboten sagt Er uns: >Du sollst nicht stehlen.< Dennoch stahl Er Selbst Adam eine Rippe, um der Menschheit die höchste Wohltat schenken zu können, nämlich die Frau. Nun sagt Er uns zwar, wir sollten keine Eidechsen essen; täten wir es aber dennoch, so würden wir vielleicht entdecken, daß auch sie eine Wohltat sind.« Tag für Tag ermunterte Rabbi Ascher seine Schüler, in solcherlei scharfsinnigen Beweisführungen fortzufahren. Nachdem aber die letzte sich als bestechend erwiesen hatte, überraschte er seine Schüler mit der Forderung: »Und jetzt nennt mir hundert Gründe, warum die Eidechse nicht gegessen werden darf.« Und als auch diese geistige Übung bestanden war, spürte er, daß seine Schüler jene Beharrlichkeit zu erwerben begannen, die jeder haben mußte, der sich anmaßte, das jüdische Gesetz zu studieren. Gern erzählte er seinen Studenten die

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