Die Quelle
Griechisch-Orthodoxe Kirche in Kefar Nachum und die Russisch-Orthodoxe in Tiberias. Er interessierte sich auch für die Kirchen der Monophysiten, die sowohl Rom als auch Konstantinopel abgelehnt hatten: die der Abessinier, der armenischen Gregorianer und der ägyptischen Kopten. Die Art seiner Arbeit bedingte jedoch, daß er Sonntagsausflüge kaum machen konnte, denn allwöchentlich hörte man am Freitagmittag mit allen Ausgrabungsarbeiten in Makor auf, und sie waren natürlich auch nicht am Samstag, dem jüdischen Sabbat, erlaubt. Sonntags wurden dann die Grabungen wieder aufgenommen, und weil so die Woche mit dem Sonntag als erstem Arbeitstag begann, meinte er, dabeisein zu müssen. Infolgedessen konnte er das Wesen seiner eigenen Kirche hier am Ort nicht weiter erforschen, was ihn als Archäologen ein wenig verstimmte, ihm als Kirchgänger jedoch kaum einen Verlust bedeutete. Denn wäre er an einem freien amerikanischen Sonntag zu Hause gewesen, hätte er wohl kaum die dortige Kathedrale besucht. Was er also tat, war, was er eigentlich immer getan hatte, wenn er bei Ausgrabungen in Israel beteiligt gewesen war: Jeden Freitagnachmittag stieg er in seinen Jeep, meistens allein, und fuhr zu irgendeinem nahe gelegenen Dorf, um am jüdischen Abendgottesdienst teilzunehmen, der den Sabbat einleitet. Dort konnte er sich unter die Menge mischen, ein besticktes Käppchen auf seinen Hinterkopf setzen und versuchen, dem Geheimnis der uralten Religion näherzukommen, in die seine Mitarbeiter durch ihre Ausgrabungen vordrangen. Er tat dies nicht, weil er eine besondere Neigung für die jüdische Deutung des menschlichen Lebens hatte, obwohl sie ihm in manchem zusagte, sondern weil man von einem Mann, der nun zehn Jahre damit verbringen sollte, in Makor zu graben, ein möglichst umfassendes Wissen über die Kultur erwarten mußte, deren Zeugnisse er ans Tageslicht förderte.
Auch bei den Ausgrabungen in Ägypten hatte er es so gehalten; dort war er regelmäßig am Freitag zum Gottesdienst in den Moscheen gewesen. Und in Arizona hatte er sich schon vor Sonnenaufgang erhoben, um an der Andacht der Evangelischen teilzunehmen. Sollte ihn sein Weg als Forscher einmal nach Indien oder Japan führen, würde er sich gewiß bald in den Hinduismus einfühlen und in Japan in den Buddhismus. Er hatte in dieser Hinsicht einen guten Instinkt. Denn ein Mann, der vorhatte, über die einander folgenden Epochen des Lebens in Makor zu schreiben, mußte so viel wie möglich über alle Aspekte dieses Lebens wissen. Er hatte bereits ein Dutzend Jahre mit dem Studium der Sprachen, Keramiken, Metallgeräte und der Münzkunde des Heiligen Landes verbracht; keines dieser Gebiete war jedoch so aufschlußreich wie die Religion. Deshalb war, als der Sommer zu Ende ging, John Cullinane etwas weniger Katholik und dafür ein wenig Jude geworden. Er versenkte sich in das allwöchentliche Ritual, das die Juden zusammengehalten hatte, trotz aller Austreibungen und Verfolgungen, an denen ein schwächeres Volk zugrunde gegangen wäre. Ja, er liebte beinahe diesen Freitagabend, wenn die Juden wie Könige zu ihren Synagogen schritten, um die Prinzessin Sabbat willkommen zu heißen. Dieser Sabbat - der Tag der Ruhe und der Heiligung, des Gedenkens an die Weltschöpfung durch den HErrn und an den Bund Gottes mit dem Volk Israel - ist heiliger als jeder andere Tag des hebräischen Kalenders. Und obwohl er Woche um Woche begangen wurde und wird, war und ist er den Juden wohl heiliger als das Osterfest für einen Christen oder der Ramadan für einen Moslem. In der Synagoge wartete Cullinane fast mit einem Gefühl der Freude auf den Augenblick, in dem die Juden begannen, jene machtvolle Hymne zu singen, die vor vier Jahrhunderten in Zefat-Safed gedichtet worden war. Der Kantor intonierte zunächst einige Abschnitte, deren Worte Cullinane nicht verstehen konnte. Aber dann warf er plötzlich seinen Kopf zurück und brach in den freudigen Ruf aus:
»Brech auf, mein Freund, der Braut entgegen,
laß uns der Ruhe freundlich Angesicht empfangen.«
Weitere Verse folgten, und nach jedem wurde der Freudenruf wiederholt, und die ganze Gemeinde stimmte mit ein. Cullinane hatte die Worte auswendig gelernt und sang sie halblaut mit, wenn der Kantor die mystischen Worte anstimmte, aus denen die ganze Liebe der Juden für diesen heiligen Tag klingt:
»Wohlan! Laßt uns dem Ruhetag entgegengehen, denn er, er ist des Segens Quelle, von Anbeginn dazu geweiht,
Der Schöpfung Schluß
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