Die Quelle
Nachrichten aus der Normandie und von Toulouse lauten ganz anders. Hohe Herren, Ritter und Fürsten nähen das Kreuz auf ihre Mäntel.« In diesem Augenblick erschien die Tochter des Juden mit einem Tablett. Kuchen und gewürzten Wein brachte sie. Volkmar deutete auf ihren Leib und fragte: »Wann?«
»In vier Wochen.«
»Muß ich dem kleinen Wicht ein Geschenk machen?«
»Wie immer«, lachte Hagarsi. Die Männer tranken den Wein der Freundschaft. In dieser Zeit lebten die Juden in Städten wie Gretsch nahezu unbehelligt. Fanatische Christen schrien zwar manchmal dagegen, daß die Juden inmitten der Christen wohnten. Aber bisher war es noch nicht zu einschränkenden Maßnahmen gekommen, so daß vornehme Kaufherren und Geldleute wie Simon Hagarsi als angesehene Bürger galten. Sein stattliches Haus war ein Mittelpunkt im Leben der Stadt; viele Deutsche kamen wie Graf Volkmar hierher, nicht nur um
Geld zu leihen, sondern auch zu ernstem oder anregendem Gespräch. Sie kamen, um Geld zu borgen, weil zwei Stellen des Alten Testaments von den Christen anders ausgelegt wurden als von den Juden. Die Christen glaubten, das strenge Gebot im Zweiten Buch Mose bedeute genau das, was es sagte: »Wenn du Geld leihst einem aus Meinem Volk, der arm ist bei dir, sollst du ihn nicht zu Schaden bringen und keinen Wucher an ihm treiben.« Diese Weisung wurde so ausgelegt, daß kein Christ - bei Strafe des Kirchenbanns oder des Todes
- Geld auf Zinsen verleihen durfte. Genau zu der Zeit aber begann man es mit diesem Zinsverbot ernst zu nehmen, da der Handel international und deshalb das Leihen größerer Summen notwendig wurde, um die Handelsgeschäfte zu finanzieren. Was war zu tun? Da entdeckte man, daß die Juden sich nicht nach den Worten im Zweiten Buch Mose richteten, sondern nach denen im Fünften Buch Mose, wo es heißt: »Du sollst von deinem Bruder nicht Zinsen nehmen, weder mit Geld noch mit Speise noch mit allem, womit man wuchern kann. Von den Fremden magst du Zinsen nehmen, aber nicht von deinem Bruder.« So kam es, weil die Christen es so wollten, zu einer sonderbaren Regelung: Die Christen regierten die Welt, aber die Juden finanzierten sie - jeglicher Geldverkehr lag in ihren Händen; selbst Bischöfe und Kardinäle liehen regelmäßig und in aller Offenheit beim Juden Geld zu festgelegtem Zinsfuß, und alle, die Handel mit dem Ausland trieben, mußten es einfach tun, um im Geschäft zu bleiben. So wurden Juden wie Simon Hagarsi aus Gretsch reich, wobei die Ironie des Schicksals es wollte, daß viele es gegen ihren eigenen Willen wurden. Hagarsi, zum Beispiel, stammte aus einer Familie, die von Babylon nach Deutschland gekommen war, als die Römer noch am Rhein herrschten. Wie sein Urahn in der kleinen Stadt Makor hatte Simon Hagarsi als Grützenmacher angefangen, und er wäre dabei glücklich gewesen; aber beim Einkaufen von Getreide war er immer weiter und weiter herumgekommen, so daß er schließlich in das Geldgeschäft geriet. Damit war eine einschneidende Veränderung vor sich gegangen; was Kanaaniter, Ägypter, Griechen, Römer und Byzantiner nicht hatten erreichen können - daß die Juden ihr Bauerntum oder ihr Handwerk aufgaben und Kaufleute wurden -, das hatte Europa vollbracht. Die Juden waren jetzt die Geldleute, und ohne ihre Dienste hätte sich das junge Europa nicht entwickeln können.
Aber selbst wenn Hagarsi nicht seine Geldgeschäfte in Gretsch betrieben hätte, wären doch viele Deutsche zu ihm gekommen. Denn in einer Zeit, in der nur wenige lesen konnten und die Nachrichten nur langsam weitergegeben wurden, war Hagarsi der bestunterrichtete Mann in Gretsch. Doch war er trotz all seines Wissens ein bescheidener Mann. Er kannte zwar viel aus der Thora und dem Talmud auswendig, behielt es aber für sich und sprach nur im Kreise der Seinen davon, denn er wußte, daß die Christen ihr eigenes Buch hatten. Wozu also sollte er sie mit seinem Glauben bemühen? Trotzdem war er in der ganzen Stadt bei Juden und Christen als ein Mann bekannt, der in sich Weisheit und große Nächstenliebe vereinte, weshalb man ihn voller Hochachtung Gottesmann nannte - schon seine Vorfahren in Makor und Babylonien hatte man viele Generationen hindurch so bezeichnet. Und selbst fromme Christen zogen aus der Bekanntschaft mit diesem Juden von Gretsch geistige Bereicherung.
Wie immer, wenn Graf Volkmar aus Hagarsis Haus kam, hatte er sein Geld. Er übergab es dem Vogt. Dann stieg er unzufrieden die Treppe seiner Burg nach
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