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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Spannung: Alles wartete darauf, daß irgend etwas passierte. Die Christenfrauen bekamen trockene Lippen beim Blick auf die auf- und zuflatternden Hosen. Und da geschah es auch schon: Rabbi Zaki lag auf dem zweiten Platz, als eine der Huren vorsprang, seine Hose packte und sie ihm bis über die Knie herunterzog. Zaki konnte nicht schnell genug stehenbleiben. Seine fetten Beine verfingen sich in der Hose, er fiel auf die Steine, schlug sich die Knie auf und zeigte seine Blöße.
    »Gleichgültig, wer das Mädchen ist«, rief der Herzog, »setzt sie auf freien Fuß, ob sie gewinnt oder nicht.« Die Menge begaffte höhnisch die Bemühungen des dicken Rabbi, seine Hosen wieder hochzuziehen, und tobte Beifall. Zaki war verletzt, weit hinter den anderen zurück und wollte abtreten, aber der Dominikaner stieß ihn zurecht und schrie ihn an, er müsse gleich allen anderen den Lauf vollenden.
    Den Corso hinab rannte Zaki, dann wieder zurück zur Kathedrale. Als die Läufer wieder auf den Platz kamen, zog die gleiche Hure wie vorhin einem anderen Juden die Hosen herunter, und der Wettkampf endete in einer üblen Balgerei. Knallfrösche explodierten, die Musik spielte, der Pöbel hatte sein Vergnügen. Minuten nach den anderen watschelte Rabbi Zaki zum Portal der Kathedrale. Allen sechs Wettläufern wurden die braunen Gewänder und roten Narrenkappen ausgehändigt. Solchermaßen gekleidet, wurden sie in die Kathedrale getrieben, wo die Juden der Gemeinde enggedrängt auf hölzernen, von der übrigen Kirche durch ein Seil abgetrennten Bänken saßen, während die Bürger der Stadt und viele Einwohner entlegener Dörfer, deren kleine Kirchen ein solch erhebendes Schauspiel nicht gestatteten, Kopf an Kopf standen, um die Juden feindselig anzustarren. Die hohe Geistlichkeit nahm ihre Plätze im Chorgestühl ein, der Herzog und sein Gefolge schritten zu den ihnen zustehenden Sitzen, und alle lauschten der versöhnlichen Predigt eines hageren Mönches, deren Zweck es war, den Juden die ganze Glorie einer gütigen und verzeihenden Christenheit zu zeigen. »Ihr Schweine, ihr Säue, ihr Dreck aus der Gosse«, rief der Pater ihnen zu. »Ihr Abschaum, ihr greulichen Abtritthunde, warum verharrt ihr in eurer Verbohrtheit? Mit euren Hakennasen schnüffelt ihr im Schmutz der Welt und seid zufrieden, im
    Dunkel zu liegen und euch im eigenen Kot zu wälzen. Eure Weiber sind alle Huren. Eure Männer sind verschnittene Verbrecher. Eure Töchter sind die Kupplerinnen des Landes. Der Antichrist seid ihr, und eure Söhne werden im ewigen Feuer der Hölle verloren sein. Warum seid ihr so verstockt?« Zwanzig Minuten lang brüllte der Mönch, dessen Aufgabe es war, die Juden zu einer höheren Form des Glaubens zu bekehren, Schmähung über Schmähung, schüttete Spott, Haß und Schimpf über sie aus. Kein Verbrechen war zu abscheulich, als daß die Juden es nicht hätten begehen, keine Übeltat zu verächtlich, als daß sie darin hätten nicht schwelgen mögen. Predigten solcher Art wurden damals allenthalben in der christlichen Welt zur Bekehrung der Juden gehalten -Ausgeburten einer pervertierten Logik, die nur einen Erfolg hatten: daß bei jeder neuen Anschuldigung des von der Kanzel Wütenden die auf ihren Bänken zusammengepferchten Juden sich fragten, was diese Albernheiten sollten. Nein, es hatte wirklich keinen Sinn, das Angebot der Kirche, sich zu bekehren, auch nur anzuhören, wenn die Kirche vom Judentum ebensowenig wußte wie dieser Mönch. Hätten die europäischen Juden auch selbst den leisesten Hang verspürt, ihrem Glauben abtrünnig zu werden, so konnte der Zwang, dieser alljährlichen Bekehrungspredigt beizuwohnen, ihre Herzen dagegen nur festigen. Nun kam der Mönch zum zweiten Teil seiner Predigt: »Im Schmutze eurer Verzweiflung behauptet ihr, Gott sei Einer, während wir wissen, daß Er Dreieinig ist. Wie könnt ihr so verblendet sein? So blöd? So ungehorsam? Was haltet ihr an eurem Buch des Alten Bundes fest, da wir doch bewiesen haben, daß es falsch ist? Warum weigert ihr euch, das herrliche Buch des Neuen Bundes anzunehmen, das gewißlich die Wahrheit enthält? Gott ist Dreieinig; die ganze Welt bekennt es. Vermögt ihr denn nicht einzusehen, daß euer Altes Buch euch nur vorübergehend gegeben worden ist, auf daß der Weg bereitet werde für die wahren Worte des Neuen? Warum klammert ihr euch an euren Irrtum? Warum?« Und jeder der nur geduldeterweise an jenem Tag in der Kathedrale sitzenden Juden wußte, daß er in seinem

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