Die Quelle
Arbeitszimmer, um Kranke zu untersuchen, wurde aber schwindlig und glaubte umsinken zu müssen. Nur mit äußerster Willensanspannung gelang es ihm, sich zu beherrschen, denn er sagte sich: Falls ich jetzt ohnmächtig werde, kann es mein Verhängnis sein. Wer weiß, welcher dieser Patienten zu mir geschickt worden ist, um mich heute abend zu bespitzeln? Deshalb fuhr er fort zu arbeiten.
Doctor Abulafia war ein großer, gutaussehender Mann mit dunklen Augen. Die Bürger der Stadt schätzten ihn; dank seiner behutsamen Art im Umgang mit den Kranken verdiente er mehr als die meisten anderen Ärzte von Avaro. Auch als geschickten Wundarzt kannte man ihn - sogar bis ins ferne Toledo, wo er einmal Kaiser Karl behandelt hatte. Er entstammte einer seit dem Jahre 400 n. Chr. in Spanien ansässigen Familie, und so hätte er sich an diesem Abend, da noch der süßliche Geruch verbrannten Fleisches über der Stadt hing, sicher fühlen können. Aber er hatte Angst. Das Bild des auf dem Scheiterhaufen stehenden Ratsherrn Diego Ximeno verfolgte ihn. So früh wie möglich schloß er sein Ordinationszimmer. Seinen Angehörigen ging er vorsichtig aus dem Wege, als er sich in eine kleine geheime Kammer begab. Ihre Wände waren weiß getüncht, Tisch und Stuhl grob gezimmert. Sonst war nichts darin - keine Bücher, kein Blatt
Papier, kein Bild. Der Arzt setzte sich, sah starr geradeaus und dachte nach. Zwar empfand er den verzweifelten Wunsch etwas niederzuschreiben, hielt sich aber zurück - seine Frau oder irgendein Spitzel hätte das Schriftstück finden und es der Inquisition übergeben können. Er fürchtete sich, die Worte zu murmeln, die sein Gehirn formte - vielleicht lauschte einer und hörte nichtspanische Silben. Er durfte kein Gebet sprechen, kein Buch aufschlagen. Er durfte nichts tun als sitzen. Fast eine Stunde lang starrte er auf die Wand, bemüht, den Geist von dem Furchtbaren zu reinigen, das er an diesem Tag gesehen hatte. Aber die Flammen und Diego Ximenos durchdringender Blick verfolgten ihn. Er mochte sich noch so sehr zu sammeln versuchen - er sah nur die Augen des Ratsherrn. Endlich aber verblaßten die schrecklichen Gesichte, und im Raum vor der Weiße der Wand begannen sich Buchstaben zu formen, hebräische Buchstaben, sich zu bewegen, hierhin, dorthin, und wechselnd tröstende oder verdammende Zeichen zu bilden. Er starrte, und die Buchstaben ordneten sich zu bedeutungsschweren Worten und mahnten an seit vielen Monaten Unterdrücktes. Nun traten die Buchstaben zu Symbolen zusammen, die anderes weckten von tiefem Sinn. Und noch immer saß Doctor Abulafia bewegungslos da. Gern hätte er mit Feder und Papier die Buchstaben, die Zahlen, die Zeichen aufgeschrieben. Aber er wagte es nicht. Er konnte nur auf sie schauen. Jetzt verwandelten sich die hebräischen Buchstaben in züngelndes Feuer. Des Arztes Atem wurde kurz und keuchend. Sein Magen verkrampfte sich. Die flammenden Buchstaben begannen zu entschwinden, bis die Wand wieder kahl und weiß war.
Doch da kamen aus der Ferne, unermeßlich weit hinter der Wand her, vier Buchstaben von ungeheurer Kraft, allzu gewaltig, als daß er sie sogleich hätte ansehen können. Er senkte den Blick. Sie kamen durch die Wand, durch das
Zimmer, vor seine Stirn, und nun vermochte er, ohne die Augen zu benutzen, sie in ihrer ganzen schrecklichen Majestät zu erschauen. Zu zwei und zwei waren sie da, JH auf der einen Seite und WH auf der anderen, und so sehr Doctor Abulafia sich auch mühte, er konnte sie nicht zu dem Einen unausgesprochenen, unaussprechlichen Namen
zusammenschauen. Langsam zogen die Buchstaben sich zurück, bis sie wieder auf der Wand standen, und jetzt vermochte er sie mit den Augen zu betrachten. Sie standen anklagend dort, JH auf der einen Seite, WH auf der anderen, und er war machtlos, sie zu dem Einen Wort zu verschmelzen. Denn das Wort, das er suchte, war der geheiligte Name des Einen wahrhaftigen Gottes, und diesen Namen vermochte Abulafia nicht auszusprechen, da er sich für der Sünde schuldig hielt: Er hätte mit Ximeno den Scheiterhaufen besteigen sollen. Feigheit hatte ihn daran gehindert. Nach einer Weile konnte er die ihn anklagenden Lettern nicht mehr betrachten. Er spürte, daß er ein altes hebräisches Gebet murmelte, ein Gebet für die Seele des toten Diego Ximeno. Denn Doctor Abulafia wußte, daß der Ratsherr ein heimlicher Jude gewesen war, daß die Inquisition, kraft ihres Gesetzes, das Recht gehabt hatte, ihn bei
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