Die Quelle
Abulafias Gedanken arbeiteten fieberhaft schnell. Und da fiel ihm jener Brief eines deutschen Juden ein; er hatte das Schreiben einmal gesehen, in dem zu lesen war, daß im Reich des Großtürken die Juden unbehelligt leben dürften. Abulafia überlegte sich einen Plan seiner Flucht nach Konstantinopel.
Der Plan war dilettantisch und nahezu unausführbar. Aber Abulafia befand sich in einer solchen Panikstimmung, daß sie die Überspanntheit seines Vorhabens entschuldigen mochte. Vor allem mußte er Frau und Kinder zurücklassen. Dies allein schon war ein schwer auf ihm lastender Entschluß, denn Maria Abulafia war eine schöne, kluge und verständnisvolle Frau, die er innig liebte, und seine Söhne waren kräftige, muntere Jungen. Doch er überlegte: Selbst wenn sie Juden werden wollten, bekomme ich sie nicht aus Spanien hinaus. Und wenn sie lieber Katholiken bleiben möchten, wie kann ich darauf vertrauen, daß sie mein Geheimnis hüten werden? So beschloß er, ihnen nichts zu sagen. Was er aber nicht einsah, war dies: daß seine eigene Flucht sie mit Sicherheit als der Mitwisserschaft Verdächtige vor die Inquisition bringen mußte.
Als nächstes unternahm der Arzt etwas ebenso Törichtes. Er stieg in den Keller hinab, hob zwei Steine auf und nahm Diego Ximenos Manuskript des Sohar und einen kleinen Siebenarmigen Leuchter, eine Menora, aus dem Versteck. Ximeno hatte sie ihm an jenem Tag des Jahres 1522 geschenkt, als sie einander gestanden, daß sie insgeheim Juden waren. Der Versuch, diese beiden Gegenstände aus Spanien hinauszuschmuggeln, und schon gar aus dem Hafen von Sevilla, war Wahnsinn, denn wenn man sie entdeckte, so bedeutete dies den sicheren Tod. Doch Doctor Abulafia wollte ohne Sohar und Menora nicht fortgehen.
Am nächsten Morgen küßte er Maria und die Knaben zum Abschied und erzählte ihnen, er sei als Arzt nach Sevilla gerufen worden. In einer Herberge am Weg stellte er dreist falsche Dokumente her, in denen er beauftragt wurde, im Namen der Krone Spanien nach Ägypten zu reisen und dort Heilmittel zu prüfen, die der berühmte spanische Doctor Maimonides, einst Leibarzt des Kalifen, in Kairo erfunden habe. Ein nicht von Angst gepeitschter Mann hätte sein Dokument so vollkommen gefälscht, daß es verdächtig wirken mußte; Abulafias Schriftstück war so offenkundig falsch - das von einem anderen Erlaß abgenommene königliche Siegel war verkehrt angebracht -, daß es nun schon wieder als echt wirkte.
Dreimal wurde er in Sevilla beinahe ertappt. Einmal in der Herberge, als ein argwöhnischer Schreiber sein Gepäck durchsuchen wollte und dabei den Sohar in die Hände bekam; zum zweitenmal, als er seinen gefälschten Reisebefehl in der Zitadelle vorlegte, und schließlich, als die Dominikaner ihn (wie sie es mit allen Reisenden taten), bei der letzten Prüfung ausfragten. Und eine Frage lautete: »War dieser Maimonides nicht Jude?«
»Ja«, antwortete Abulafia - und er verkrampfte alle Muskeln, um nicht zu zittern. »Vor Hunderten von Jahren. Aber er wird als Spanier hochgeschätzt.«
»Warum wünschen Seine Allerkatholischste Majestät, jüdische Heilmittel prüfen zu lassen?«
»Wißt Ihr, was man von Maimonides sagt? Hätte der Mond ihn um Rat gefragt, so hätte er keine Flecken im Gesicht.«
Die Dominikaner lachten. »Habt Ihr selbst jüdisches Blut?« fragten sie. »Keineswegs.«
»Was habt Ihr bei Euch?«
»Medizinische Bücher.« Und so entkam er aus Spanien.
Das Schiff lief den Hafen von Tunis an. Sofort ging Doctor Abulafia an Land, suchte einen Fleischer auf, zerschlitzte dort seine Oberkleider und beschmierte sie mit Blut. Er gab einem Muselman reichlich Geld und beauftragte ihn, diese Beweisstücke dem Kapitän des Schiffes zu bringen: Der spanische Arzt sei von Räubern erstochen worden, sein Leichnam liege irgendwo in der Bucht auf dem Meeresgrund. Dann trug er sein kostbares Gepäck zu einer kleinen Herberge und wartete voller Unruhe, bis er sah, daß sein Schiff nach Spanien zurückgesegelte. Sein kindischer Plan hatte Erfolg gehabt! Abulafia rief den Herbergswirt und bat um eine Schere und eine Kerze. Dann verschloß er die Tür seines Zimmers und brach die Kerze in sieben Stücke. Er steckte sie in Diego Ximenos Menora, zündete sie an, sprach ein hebräisches Gebet und vollzog eine symbolische Waschung, um das Wasser der Taufe von seinem Haupt zu entfernen. Jetzt nahm er mit zitternden Händen die rostige Schere und begann sich selbst zu beschneiden. Die ersten
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