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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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lebendigem Leib zu verbrennen.
    An jenem Tag des Jahres 1540, an dem er erfuhr, daß Ximeno verhaftet worden war, hatte Doctor Abulafia in seinem weißen Zimmer in bebender Angst sich gesagt: »Diego wird geständig sein und ihnen sagen, daß auch ich ein Jude bin.« Dieser Tag war der Anfang der Qual seiner Feigheit gewesen. In unmännlicher Angst hatte er immer wieder auf das Gefängnis geblickt, in dem Ximeno festgehalten wurde, und jeden Tag war er gewärtig gewesen, vor die Inquisition geladen zu werden und zu erfahren, der Ratsherr habe ihn belastet. Die drei Jahre, die Ximeno schweigend im Kerker lag, hatten für den Arzt eine Ewigkeit gedauert, denn er konnte sich ein Bild machen von den Foltern, die sein Freund erdulden mußte. In den letzten Jahren waren mehrere Patienten, die man nach Befragungen in der Folterkammer wieder freigelassen hatte, mit schrecklich verrenkten Gliedmaßen oder entsetzlichen Wunden an den Füßen zu Doctor Abulafia gekommen. Immer aber, wenn sie ihm hatten berichten wollen, wie sie zu diesen Verstümmelungen gekommen waren, hatte er es abgelehnt, ihnen zuzuhören. »Die heilige Inquisition erfüllt ihre Pflicht, und sie erfüllt sie gerecht.« Das waren seine Worte gewesen. Denn er hatte nie wissen können, ob es nicht Spitzel waren, denen man das Leben geschenkt hatte, um ihn zu fassen. Im Schutze dieser stillen Kammer hatte er gebetet: »HErr, Gott unseres Lehrers Mose, errette Diego.« Und als Wochen vergingen und die Inquisition ihn nicht verhaftete, war seine Hoffnung gewesen: Vielleicht gesteht Diego nichts. Jetzt schämte er sich, so eigennützig gedacht zu haben. Vor ein paar Tagen war überall das Flugblatt verteilt worden mit der Ankündigung, bei der nächsten Ketzerverbrennung werde der Ratsherr Diego Ximeno auf dem Scheiterhaufen stehen. Abermals hatte Abulafia Qualen durchlitten, bis er sich schließlich, von selbstmörderischem Wahn getrieben, Ximeno bei dessen Gang zur Verbrennung in den Weg stellte, bereit, vorzutreten und sich auszuliefern, falls der Verurteilte ihm ein Zeichen gab. Doch mit einer Stärke, die Abulafia niemals für möglich gehalten hatte, war Ximeno schweigend weitergeschritten und hatte die Namen all derer für sich behalten, von denen nur er wußte, daß sie heimliche Juden waren. Als er aber an dem Arzt vorbeigegangen war, hatte Abulafia etwas gesehen, das er niemals vergessen sollte: Ximenos Gesicht war eine Maske - die Maske des Schweigenden, der nichts verrät. Seine nackten Füße jedoch waren mit klaffenden Wundmalen gezeichnet, die nur von
    Verbrennungen herrühren konnten. Und am Ende, am Ende war jener letzte brüderliche Blick gewesen. Heute in der Todesnacht saß Doctor Abulafia wieder in seiner weißen Kammer und fragte sich: Wie viele weitere heimliche Juden hat Ximeno mit seinem Mut geschützt? Er bedachte die Seelenstärke dieses so schrecklich Gemarterten, und da kam es über ihn. Mochte lauschen, wer wollte - er rief laut: »Gelobt sei der HErr um jener willen, welche die Kraft haben, für Seinen heiligen Namen zu sterben.« Und er fuhr fort mit seiner Lobpreisung dieses guten Juden, der sich am heutigen Tag lieber hatte verbrennen lassen als den Todesqualen dadurch zu entgehen, daß er andere beschuldigte, die man nach seinem Hinscheiden zu Tode hetzte.
    Doctor Abulafia hatte Ximeno vor zwanzig Jahren kennengelernt, im Winter 1522. Durch einen Zufall war es zu der Bekanntschaft gekommen, durch einen Zufall der Worte. Auf einem Festmahl anläßlich der Feier des Schutzpatrons von Avaro hatte er ahnungslos gefragt: »Was ist eigentlich die Kabbala, von der die Juden reden?« Und nach vorsichtig tastendem Gespräch hatte der Ratsherr sich als ein Meister der Kabbala zu erkennen gegeben, jener esoterisch mystischen Lehre, die in Deutschland und Spanien entstanden war auf der Suche nach dem rechten Verständnis des Gottes der Juden. Ximeno hatte Doctor Abulafia ein Manuskript des Sohar gegeben, des geheimen Buches der Kabbala, von dem es hieß, es sei vor mehreren Jahrhunderten von einem jüdischen Mystiker in Granada geschrieben worden, und hatte ihn in die Geheimlehre eingeweiht. Abulafia fand Gefallen daran, denn nie war er imstande gewesen, das christliche Dogma, daß das Eine Göttliche sich in dreierlei Gestalt manifestiere, wirklich zu glauben, und der strenge Eingottglaube der hebräischen Lehre hatte ihm nicht weniger Schwierigkeiten bereitet. Im Menschen - so empfand er es in seiner spanischen Wesensart -wirkte noch

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