Die Quelle
etwas, ein Aufwärtsstreben der Seele, ein leidenschaftliches Suchen nach dem Einswerden mit Gott. Allein im Sohar hatte Abulafia gefunden, was ihn befriedigte.
Zwischen Gottes Unermeßlichkeit und die Winzigkeit des Menschen setzt der Sohar zehn Sphären göttlicher Offenbarung, deren jeder der Mensch sich nähern, die er gar erreichen kann: die höchste Krone Gottes, die Weisheit Gottes, die Vernunft, die Liebe, die Kraft, das Mitleid, die Ewigkeit, die Majestät, das Fundament und das Reich Gottes. Diese zehn Sphären, durch die Gott aus seiner Unerkennbarkeit erscheint, können in Form eines Baumes dargestellt werden, doch gilt, daß das Mark des Baumes, seine Lebenskraft, der letzte und höchste Geist Gottes, ist und sein muß.
Durch das mystische Betrachten dieser zehn Sphären und das Sichversenken in ihre Geheimnisse erreichten Ximeno und Abulafia jene Erleuchtung, in der sie, nach stundenlanger Schau der zweiundzwanzig hebräischen Buchstaben, dem letzten Mysterium des Lebendigen Gottes nahekamen. Dann erschienen vor ihnen auf dem Papier die vier einzelnen Buchstaben des geheimnisvollen Tetragramms JHWH in der richtigen Folge zum Namen verschmolzen, und die wirkliche Gegenwart Gottes Selbst wurde ihnen bewußt.
Als aber der Griff der Inquisition einen heimlichen Juden nach dem anderen packte, hatte Ximeno gewarnt: »Wir täten besser daran, Bruder, unsere Bücher zu verbrennen.« Und sie hatten ihre Abschriften der Thora verbrannt - obgleich die Thora auch den Christen als heiliges Buch galt -, und sie hatten die Traktate des Talmud verbrannt. Doch als sie auch den Sohar den Flammen übergeben wollten, hatte Abulafia versprochen: »Ich verbrenne ihn heute abend«, das Buch statt dessen aber, ohne Ximeno etwas davon zu sagen, in einer Nische seines Kellers versteckt. Denn das Buch, das seiner Seele die Erleuchtung geschenkt hatte, vermochte er nicht zu verbrennen. Später hatte Ximeno gemahnt: »Wir dürfen nicht mehr mit hebräischen Buchstaben schreiben. Ein Kind könnte einmal ein unverbranntes Fetzchen finden. Oder deine Frau könnte Geschriebenes auf dem Schreibtisch entdecken.« So hatten sie es sich zur Gewohnheit gemacht, in völligem Schweigen beieinander zu sitzen, zwei heimliche Juden, deren jeder sich auf seine eigene Weise in das göttliche Geheimnis versenkte.
Es ist erstaunlich, dachte Abulafia, daß die Inquisition mich nicht als einen der Freunde Ximenos ermittelt hat. Und dankbar erinnerte er sich daran, daß Diego es klugerweise abgelehnt hatte, jemals mit Abulafia gesellschaftlich zu verkehren; Ximeno war stets nur als Patient zu ihm gekommen wegen einer angeblichen chronischen Nasenkrankheit. »Nicht einmal dir sage ich, wer die anderen Juden sind«, hatte er einst erklärt, »denn eines Tages könnten wir berufen sein, den Qualen der Folter zu widerstehen. Deshalb dürfen wir nicht wissen, wer unsere Nächsten sind, damit wir uns nicht als schwach erweisen.«
In seiner kahlen Kammer versuchte Doctor Abulafia nun, sich auf das zu besinnen, was er von Ximenos Gewohnheiten wußte: Er hat mich häufig aufgesucht, und ich bin ein Jude. Er ist auch in den Laden von Luis Moro gegangen. Wäre es möglich, Abulafia schlug sich mit der Hand auf die Lippen, um selbst das bloße Grübeln zu beenden. Denn wenn man ihn folterte, dann wollte er den Richtern nicht einmal Ahnungen preisgeben. Er mußte den Namen Luis Moro für immer aus seinem Gedächtnis tilgen, und falls.
»HErr! HErr!« rief er laut. Dann faßte er sich wieder und fragte sich: Woher hat Diego die Kraft genommen, mich nicht zu nennen? Abulafia hatte den heißen Wunsch, auf den Straßen laut um Ximeno zu klagen, für die große Seele zu beten, die er im Feuer ausgehaucht hatte. Aber er fürchtete sich. Er weinte still in sich hinein, ließ nicht einmal seine Augen feucht werden, damit seine Frau, falls sie plötzlich eintrat, keine Tränen sah.
Gewaltsam unterdrückte Doctor Abulafia seine Trauer und das Bewußtsein seiner Sünde. Und immer klarer formte sich in ihm ein Entschluß: Ich will fort aus Spanien. Ich kann die Greuel nicht länger ertragen. Eine Stätte der Ruhe muß ich finden, wo ich in Frieden den Sohar studieren kann auf der Suche nach dem Weg, über den die zehn Sphären des Göttlichen den Menschen zum Einssein mit Ihm und zur Erkenntnis der letzten Verborgenheiten zu führen vermögen. Doch wo konnte ein Jude Ruhe, Frieden, Freiheit finden? Und wie sollte er aus Spanien entkommen, um dorthin zu gelangen? Doctor
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