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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Frau. Da sie nicht lesen konnte, las er ihr vor. Lauschend, die Hände um die Knie gelegt, saß sie da, die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Er beobachtete sie während des Lesens, und als er geendet hatte, fragte er sie: »Was hältst du von der Botschaft?«
    »Er sagt vieles, was ich gerne höre.«
    »Was aber denkt er sich dabei?«
    »Ich glaube, er hat zweierlei im Sinn. Jetzt braucht er uns, und später will er uns bekehren.«
    »Ganz richtig«, rief Elieser. Seit zwei Jahren war er mit Lea verheiratet; seine Freude aber, eine solche Frau zu haben, hatte sich nicht im geringsten gemindert. Lea war ebenso klug wie schön und ebenso verständig im Umgang mit den Bewohnern der Jüdengasse wie liebevoll zu ihrem eigenen Sohn. Ihr Haar trug sie in der Mitte gescheitelt und über die Ohren gelegt, so daß ihr klares, schönes Gesicht wie von einem schwarzen Rahmen eingefaßt war. Sie hatte fast ihr ganzes Leben hinter dem Tor des Ghettos zugebracht. Denn ihr Vater war klug genug gewesen einzusehen, daß es nur Unheil geben mußte, wenn eine so liebreizende Jüdin den jungen Männern der Stadt unter die Augen kam. Und nach der Hochzeit hatte Elieser sie aus dem gleichen Grund gebeten, daheim zu bleiben. Oft genug waren hübsche Jüdinnen vergewaltigt oder umgebracht worden. Und der Rat der Stadt fand keinen Weg, die Verbrecher zu bestrafen, weil es den Richtern widerstrebte, das rohe Umspringen mit Judenmädchen überhaupt als ein Verbrechen anzusehen.
    So sah Eliesers junge Rebbezin während der ersten zehn Jahre ihrer Ehe nichts anderes als die Jüdengasse. Aber von Lea ging ein Leuchten aus, das allen Menschen der dumpfen Gasse das Leben erträglich erscheinen ließ. Eine Wehfrau war sie nicht, aber die meisten Schwangeren wollten sie bei sich haben, wenn ihre schwere Stunde kam, und vielen schon hatte sie geholfen. Sie verstand geschickt mit der Nadel umzugehen, und im Düster der Judenhäuser zeigte sie den jungen Mädchen, wie sie die Kleider ihrer Väter in Ordnung halten mußten. Und was das Beste war: Sie besaß eine lebhafte Phantasie und erzählte gern Geschichten von den Helden der jüdischen Geschichte. Die Mütter gewöhnten sich daran, ihre Kinder in der Wohnung des Rabbi zu vermuten. Dort hörten die Kleinen der Rebbezin zu, die alle Geschichten, von denen die Heilige Schrift in nur wenigen Sätzen erzählt, wunderbar auszuschmücken wußte.
    »Ihr müßt nun nicht denken, daß Jael nur eine gewöhnliche Frau gewesen ist«, hörte Elieser sie eines Tages zu mehr als einem Dutzend Kindern sagen. »O nein! Sie war groß und hatte rote Haare. Und als sie nicht älter war als ihr, ging sie in die Wüste Sinai und zähmte einen Löwen, denn sie fürchtete sich nie. Sie konnte weben und hatte viele Kleider, rote und goldene und blaue, und sie suchte sich bunte Steine und machte sich eine Halskette davon. Glaubt mir, als Jael Heber heiratete, war es eine der prächtigsten Hochzeitsfeiern, die man je gesehen hatte. Die Leute kamen aus fernen Dörfern herbei. Sie ritten auf Pferden und Kamelen, und Jaels jüngere Schwester - sie war etwa so alt wie ihr -, die ritt auf dem gezähmten Löwen. Manche Gäste mußten drei Tagereisen weit wandern, um zu der Hochzeit zu kommen.«

»Hatte man ihnen denn erlaubt, die Jüdengasse zu verlassen?« fragte ein Junge. »Moische!« rief sie. »Damals hatten wir keine versperrten Gassen und kein eisernes Tor. Weißt du denn nicht, wie wir damals gelebt haben? In schönen Dörfern unter freiem Himmel und mit Dattelpalmen, die sich unter der Last ihrer Früchte bogen. Männer wie dein Vater besaßen Pferde und ritten auf ihnen viele Meilen weit an grünen Feldern vorbei. Dein Vater, Rachab, hätte vielleicht Bienen gezüchtet, und wo immer er mit seinem weißen Maultier hinkam, waren Blumen. Und im Wald gab es Löwen, Beute für tapfere Jäger, und am Rand der Wüste lebten die Kamele. Auf ihnen konnte man reiten, wenn man schlau genug war, sie zu fangen. Und überall war es wunderschön. Die Seen, die Seen waren so groß, daß man unmöglich um sie herumgehen konnte. Und ein Mann namens Nathanael hatte an einem der Seen ein Boot, und nach der Hochzeit lud er alle. Kinder zu einer Kahnfahrt auf dem See ein.«
    Rabbi Elieser studierte unterdessen ruhig in einem anderen Teil des Zimmers. Nach einer Weile fragte eines der älteren Mädchen, das schon Zöpfe trug: »Aber warum nahm Jael einen Hammer und schlug dem Feldherrn Sisera einen Zeltpflock durch die Schläfe?« Der

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