Die Quelle
»Die Juden wohnen doch gern in der Jüdengasse und gedeihen ganz gut dabei.« Die Juden selbst leisteten dieser Ansicht sogar Vorschub, denn nachdem man sie mit ihren Familien nun einmal in diese Elendsquartiere gezwungen hatte, hielten sie sich noch strenger als je zuvor an ihre Vorschriften zur Gesunderhaltung. Und die von den Christen ebenso geschmähte wie beneidete jüdische Heilkunst bewahrte sie vor manchen Seuchen, von denen die übrige Bevölkerung heimgesucht wurde. Nicht umsonst war im Talmud zu lesen: »Kein Jude soll in einer Stadt wohnen, der ein guter Arzt fehlt.« Mitten in der Jüdengasse stand ein armseliger Schuppen, ein einziger Raum nur, modrig und eng. Er war Rabbi Eliesers ganze Freude: seine Synagoge. Nur wenige Gotteshäuser sind wohl so kläglich gewesen wie der
Verschlag, in dem die Juden von Gretsch beten mußten. Es gab dort weder Bänke noch Fenster noch Regale für die heiligen Schriften. Die Beter setzten sich auf den Boden; wenn der Raum überfüllt war, standen sie. Die Synagoge enthielt kaum mehr als ein erhöhtes Pult, von dem aus der Oheim des Rabbi, Isaak Gottesmann, am Samstag aus der Thora vorlas, und als einziger Schmuck hing vor der Nische mit der Thorarolle ein besticktes Tuch. Das war schon beinahe alles, wenn man von dem mehr als hundert Jahre alten wackeligen Tisch absah, der in einer Ecke stand und an Werktagen benutzt wurde, von einem Stuhl und einem Kerzenständer. An diesem Tisch studierte Rabbi Elieser lange Jahre hindurch Tag um Tag den Talmud und vertiefte sich in die gesetzlichen und sittlichen Grundlagen seines Glaubens. Unter den Juden Deutschlands galt es allenthalben als ausgemacht, daß er, sofern ihm ein langes Leben beschieden sei, sicherlich noch zu einer Leuchte des Judentums werde.
In einem anderen Winkel der Synagoge unterrichtete Rabbi Elieser die Knaben der Jüdengasse. Alle lernten sie bei ihm lesen, weil, wie er den Eltern immer wieder versicherte, die Weisen gesagt hatten: »Lehre deinen Sohn lesen, denn so verleihst du ihm vier Arme.« Zwar dünkte es Elieser anstößig, daß die Synagoge auch als Schule dienen mußte und die Andacht der in den Schriften vertieften alten Gelehrten durch das Hersagen der Kinder gestört wurde. Doch in der ganzen Jüdengasse war kein anderer Platz zu finden.
Nicht aus freien Stücken hatten die Juden von Gretsch eine so erbärmliche Synagoge, sondern weil ihnen das geltende Recht keine bessere erlaubte. »In der Jüdengasse darf eine Synagoge stehen, vorausgesetzt, daß sie weder groß ist noch so hoch wie der Dom noch irgendwelche Verzierung aufweist. Und ohne Billigung des Bischofs darf sie nicht geändert werden, auch nicht in kleinsten Einzelheiten.« Den Juden gefiel es gar nicht, daß ihr gelehrter Rabbi an dem wackeligen Tisch studierte, und deshalb hatten sie ihm vor ein paar Jahren einen besseren gezimmert. Aber der Wächter am Eisentor hatte davon Wind bekommen und es der Behörde gemeldet. Darauf hatte der Rat den neuen Tisch beschlagnahmt, die Juden mit einer Geldstrafe belegt und angeordnet, daß der alte Tisch wieder hingestellt wurde.
Es ist seltsam, überlegte Rabbi Elieser, daß all die entwürdigenden Einschränkungen nicht von den weltlichen Gesetzgebern verfügt worden sind, sondern von der Kirche -was er seiner Gemeinde wie folgt erklärte: »Der gleiche Glaube, der uns durch Bekehrung in seinen Schoß aufnehmen möchte, zwingt uns die Jüdengasse auf, um darzutun, wie barmherzig er ist.«
In Gretsch allerdings hatte man nur wenig Versuche unternommen, die Juden zu bekehren. Denn kein Jude wünschte sich Rabbi Eliesers Führung zu entziehen, und kein Christ hätte einen bekehrungswilligen Juden willkommen geheißen, wie es vor mehreren Jahrhunderten schon Gunther der Kreuzfahrer in seiner ungehobelten deutschen Art ausgedrückt hatte: »Ein bekehrter Jude ist wie Hühnerdreck -warm, wenn er das Federvieh verläßt, aber kalt, wenn er auf dem Boden ankommt.«
Zudem hatten gerade in diesen Jahren die Gretscher Juden kaum Anlaß, die Christen zu beneiden. Denn die christliche Kirche war seit ein paar Jahren durch bitteren Streit gespalten.
1517, als Martin Luther, ein des Hebräischen kundiger Mönch, seine ersten Angriffe gegen die Mutterkirche richtete, hatten die Juden gleichgültig zugesehen. 1523 aber brachte Isaak Gottesmann ein Exemplar einer Flugschrift mit, in der Luther sich zum erstenmal öffentlich über die Juden ausließ. Eine Woge der Hoffnung brandete durch die
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