Die Quelle
trug die Judentracht mit so würdevoller Gelassenheit, daß sie an ihm wie eine Ehrentracht wirkte.
Judenhut, Judengewand, Judenfleck waren jedoch nicht die einzigen Demütigungen. So hätte Elieser als Rabbi eigentlich einen langen Bart getragen. Da aber ein langer Bart das Zeichen des achtbaren deutschen Mannes war, mußte Elieser einen kurzen tragen. Im Umkreis des Domes durfte er sich nicht aufhalten, in der Karwoche sich überhaupt nicht auf der Straße blicken lassen. Während der Zeit der Gottesdienste war es ihm verboten, sich so laut zu unterhalten, daß andere ihn hören konnten, und niemals durfte er auf dem Gang durch die Straßen stehenbleiben und mit Kindern sprechen, damit er sie nicht zu Abtrünnigkeit verlocke. Das Schlimmste aber war, daß Gesetz und Sitte ihn zwangen, in der Jüdengasse zu leben. Die Jüdengasse von Gretsch: Im zwölften Jahrhundert waren dort, wo jetzt die Juden auf kleinstem Raum in entsetzlicher Enge wohnen mußten, zwei Reihen stattlicher Häuser entstanden. Zwischen den christlichen Eigentümern hatte es bald Streitigkeiten gegeben, weshalb der Grund und Boden zwischen den beiden Häuserzeilen nicht weiter bebaut worden war, und als es immer wieder zu Schlägereien kam, hatten sich die städtischen Behörden entschlossen, zwei Trennmauern zu errichten. Übrig geblieben war ein knapp vierzehn Meter breiter leerer Streifen. In diesen Raum hatte man zwei Reihen Judenhäuser gequetscht, die eine nur anderthalb Meter breite
Gasse säumten, so daß die gegenüberliegenden Häuser einander beinahe berührten. Und als sich hier mit der Zeit immer mehr Juden zusammendrängten, mußte jedes der schmalbrüstigen Häuser immer wieder aufgestockt werden, bis nur noch ein dünner Strich Himmel sichtbar blieb. In der Jüdengasse war es deshalb stets dunkel; die zahlreichen Bewohner erstickten fast in den überfüllten Zimmern.
Auf der einen Seite endete die Gasse an einem querstehenden fünfstöckigen Haus, das jeden Sonnenstrahl abschnitt. Auf der anderen schloß ein starkes eisernes Tor sie ab. So kostbar war bei der Enge des Raums jeder Platz, daß man selbst das Tor mit einem Haus überbaut hatte. Jeden Tag, wenn es dunkel wurde, verschloß ein christlicher Wächter, den die Juden zu entlohnen hatten, die Torflügel. Innerhalb des auf diese Weise nach allen Seiten versperrten Ghettos stand am Tor dort, wo jeder Jude ihn sehen mußte, ein Obelisk zur Erinnerung an ein Verbrechen, das die Juden von Trient vor einigen Jahrzehnten begangen haben sollten. Auf allen vier Seiten des Obelisks zeigte ein Relief, wie ein heiligmäßiges Kind von den abscheulichen Juden zu Tode gequält wird. Und über dem Relief befand sich eine Inschrift: »Geweiht dem Gedenken des christlichen Knäbleins Simon von Trient, dessen Leib anno 1475 als Blutopfer geschändet ward, für welch abscheuliches Verbrechen alle Juden von Trient den Flammentod starben.« Dieser Obelisk war eine sehr ernste Mahnung an die Leidenschaften, die, einem Vulkan gleich, jederzeit sich in Haßausbrüchen gegen die Juden entladen konnten - wobei diese Ausbrüche um so absurder waren, als sich einige Jahre später die Massenverbrennung eindeutig als ein unseliger Justizirrtum herausgestellt hatte: Die Juden waren am Tod des Knaben Simon überhaupt nicht schuldig gewesen. Durchschnittlich sechs Menschen lebten in jedem engen Zimmer der Jüdengasse, denn die Zahl der Gretscher Juden war nicht klein. Aber keiner durfte in den christlichen Stadtvierteln arbeiten, niemand einer Handwerkerzunft angehören, keiner Waren kaufen und verkaufen, es sei denn unter Glaubensgenossen, niemand einen ehrlichen Beruf ausüben. Zugelassen waren sie nur als Geldleiher, und dies auch nur, weil das Verleihen auf Zins den Christen von der Kirche noch immer verboten war. Christliche Honoratioren, die um ein Darlehen verstohlen in die Häuser der Jüdengasse kamen, waren deshalb dort kein ungewöhnlicher Anblick. Monate später hetzten sie dann den Mob hin, damit er die Geldleiher umbrachte, die Abrechnungsbücher verbrannte und so alle Schulden getilgt waren - und auch das war kein ungewöhnlicher Anblick.
Diejenigen, die für eine solche Abschließung der Juden eintraten, begründeten dies folgendermaßen: »Im Falle von Unruhen kann es für die Juden nur Schutz bedeuten, wenn sie in einem Viertel beisammen wohnen.« Und Christen, die nie die unglaublichen Wohn- und Lebensverhältnisse dort gesehen hatten, glaubten dies sogar ganz ehrlich. Andere meinten:
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