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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Rabbi beugte sich vor, um zu hören, was seine Frau darauf antwortete. Denn im Talmud stand zu lesen, daß Jael, um ihren Feind zu trügen, sich siebenmal von ihm hatte nehmen lassen und dem Schlafenden einen Zeltpflock durch den Kopf getrieben hatte.
    »Wenn ich es dir jetzt erkläre, Mirjam, verstehts du es noch nicht. Deshalb glaube mir, daß Jael trotzdem eine der sanftesten Jüdinnen war. Denn, Mirjam, wie könnte eine Frau einen Löwen zähmen, wenn sie nicht sehr sanft wäre?«
    »Wie sieht ein Kamel aus?« fragte einer der kleinen Jungen.
    »Ja, hast du denn noch nie ein Kamel gesehen?« rief Lea. »Es hat ein Fell wie ein Löwe und einen Schwanz wie ein Tiger und vier schnelle Füße wie ein Pferd. Und große Zähne, mit denen es die Baumwipfel herunterzieht. Zum Schlafen rollt es sich zusammen wie ein Kätzchen. Du hättest Jael und ihren Mann Heber und ihre Kinder sehen sollen, wenn sie auf Kamelen über die Blumenteppiche ritten. Sie haben den Leuten auf dem See zugewinkt. Und am Abend gab es Tanz auf großen freien Plätzen unter dem Sternenhimmel. Du denkst doch nicht im Ernst, daß wir stolzen Juden in den alten Zeiten in engen Gassen wie hier gewohnt haben?«
    Häufig fühlte Rabbi Elieser sich versucht, dem Geschichtenerzählen seiner Frau ein Ende zu machen, denn später mußten die Kinder das meiste, was sie ihnen erzählt hatte, anders lernen. Aber er tat es nie. Später, wenn die Kinder heranwuchsen und heirateten, im Winkel irgendeines überfüllten Zimmers hausten und eigene Kinder hatten, die auch wieder nichts anderes kennenlernten als die Jüdengasse, war es gut, daß sie einmal von Freiheit und Weite und Stolz gehört hatten. Die Fabeln schadeten ihnen nicht, denn später würden sie nur noch wissen, daß Jael eine heldenhafte Frau gewesen war, die einen Mann getötet hatte, um Israel zu retten.
    Es kam jedoch der Tag, an dem Elieser meinte, den Phantasien seiner Rebbezin Einhalt gebieten zu müssen. Denn als er eines Morgens, dem Anschein nach lesend, auf dem Bett saß, hörte er Lea den mit weitaufgerissenen Augen lauschenden Kindern erzählen: »Die Lade, die Mose in der Wüste fand, war so lang wie dieses Haus und zweimal so breit und von oben bis unten mit Gold überzogen wie der Stock von Gottesmann. Und in die Lade tat Mose die Tafeln des Gesetzes und trug sie vierzig Jahre lang durch die Wüste. Die Wüste?« Sie machte eine Pause. »Die Wüste ist so breit wie das ganze Land von hier bis zur Stadtmauer und flach. Schöne grüne Gräser wachsen im Sand und Blumen, so weit man schauen kann. Und in jeder Nacht sprießt neben jeder Blume ein Laib Brot mit dunkler Kruste aus dem Sand, und damit hat der HErr Seine Juden vierzig Jahre lang am Leben erhalten.«
    »Was geschah mit der Lade?« fragte ein Junge.
    »Sie ist verlorengegangen«, sagte die Rebbezin und strich sich ihr Haar aus der Stirn, »und wir alle sind sehr traurig gewesen. Wir haben geweint und unsere Kleider zerrissen. Aber dann fand König David sie eines Tages wieder, versteckt in einem kleinen Dörfchen. Da war er so froh, daß er anfing zu tanzen und zu singen und große Becher Bier zu leeren. Er tanzte die ganze Nacht. Und was glaubt ihr, was er während des Tanzens getan hat?«
    »Hat er die Mädchen geküßt?« fragte Mirjam mit den Zöpfen. »Ja. Das auch. Aber obendrein hat er mehr als hundert Freudenpsalmen gedichtet.« Hier meinte Rabbi Elieser seine Frau unbedingt unterbrechen zu sollen. Doch aus irgendeinem Grund unterließ er es. Und Mirjam fragte: »Stimmt das, was meine Mutter sagt, Rebbezin? Daß an eurem Hochzeitstag dein Mann die ganze Nacht hindurch getanzt hat?«
    »O ja!« sagte die Rebbezin. »Als wir Juden noch frei waren, unter dem weiten Himmel, umgeben von den Blumen der
    Wüste, da haben wir immerfort getanzt. Erst hier, Mirjam, haben wir es vergessen. Als der Rabbi auf unserer Hochzeit tanzte, da hat er die Tage König Davids Wiederaufleben lassen.«
    Rabbi Elieser blickte über die Köpfe der Kinder hinweg auf seine Frau, die ihn voller Liebe anschaute, und sagte ganz unvermittelt: »Kinder, ihr müßt jetzt nach Hause gehen.« Und als sie fort waren, schickte er auch seinen eigenen Sohn aus dem engen Zimmer und umarmte Lea so ungestüm, als seien sie zum allerersten Mal allein. »Du meine wunderbare Psalmistin«, flüsterte er. »Auf deine eigenwillige Weise bringst du mir die Wahrheit.« Er küßte sie leidenschaftlich und spürte ihr kühles Haar auf seinem Gesicht. Von der engen Gasse her

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