Die Quelle
mitgenommen.
Die Fremde war noch nie in einer Höhle gewesen; das Dunkel im Innern erschreckte sie, und sie fürchtete, getötet zu werden, als man sie hineinschleppte. Später, als sie die Sprache der Höhle beherrschte, erklärte sie Ur, daß in ihrem Lande die Menschen nicht unter der Erde lebten. Er vermochte das überhaupt nicht zu begreifen, denn was sie da sagte - daß die Menschen aus Steinen und Holz sich ihre eigenen Höhlen über der Erde bauten -, war für ihn ohne Sinn. »Man lebt besser so«, versicherte sie ihm. Er aber konnte das nicht verstehen.
Und dann war das fremde Mädchen seine Frau geworden. Noch etwas anderes vermochte er an ihr nicht zu begreifen: daß sie unentwegt die Körner wilden Getreides sammelte. Sie aber wußte, daß man die Körner den ganzen Winter hindurch aufbewahren konnte, ohne daß sie verdarben wie das rohe Fleisch. Weite Wege legte sie zurück, um die Plätze zu finden, wo diese Gräser am besten wuchsen. Eines Tages entdeckte sie in einem offenen Gelände östlich des Felsens eine größere Fläche, die dicht bewachsen war mit Getreidegräsern. Sie brachte Ur dorthin, um ihm zu zeigen, wie viel leichter es doch sein müßte, eine solche Menge abzuernten, wenn sie so dicht stand wie hier, statt herumzusuchen: »Warum lassen wir nicht das Korn wachsen, wo wir es unter unseren Augen haben? Wenn wir das tun, reift es im Herbst auf den Flächen, die wir uns merken.« Ur war überzeugt, daß das Korn nach dem Willen der Menschen gewachsen wäre, wenn es selbst nur gewollt hätte. Deshalb lachte er seine Frau aus und weigerte sich, ihr beim Ausgraben des Getreides zu helfen, das sie näher an der Quelle wieder einpflanzen wollte. Sie beugte sich über die Halme, und als sie aufsah, sagte sie: »Mein Vater ließ das
Korn wachsen, wo er es wollte.« Aber Ur verwarf den Gedanken: »Er baute auch Höhlen über der Erde.« Und indem er sie belustigt gewähren ließ, ging er auf die Jagd.
Aber Urs Frau gab nicht auf. Die ersten fünfzehn Jahre ihrer Ehe versuchte sie es immer und immer wieder, den wilden Weizen zu zähmen. Vergeblich. Jedes Jahr wurde er entweder durch Dürre, Flut oder Kälte vernichtet, oder Wildschweine hatten das Feld mit ihren Hauern zerwühlt. Ur war es klar: Das wilde Gras wollte nicht dort wachsen, wo sein eigensinniges Weib es ihm befahl. Inzwischen suchten die anderen Familien der Höhle den Weizen weiterhin da, wo er zufällig wuchs; ihnen genügte das. Vor zwei Jahren hatte dann aber Urs Frau an einer entfernten Stelle des Wadi einige junge kräftige Triebe des widerstandsfähigeren Emmerweizens gefunden. Ein glücklicher Zufall ließ sie das Getreide in günstigen Boden am Rand des abfallenden Felsens pflanzen, dorthin, wo während der trockenen Jahreszeit genug Feuchtigkeit vom Gestein auf die Halme sickerte, sie am Leben zu erhalten. Der Ertrag an eßbarem Weizen war zwar enttäuschend gering, aber nun wuchs das Getreide doch so, wie sie es wollte, und im Frühling sproß es an derselben Stelle. Urs Frau sagte daher zu den Ihren: »Laßt uns sehen, ob wir den Weizen am Felsrand wachsen lassen können; ich glaube, dort hilft uns die Erde.« Und das wilde Getreide gedieh, wie die beharrliche Frau es vorhergesagt hatte.
Als ihre Tochter das elfte Jahr erreicht hatte, konnte Urs Frau zufrieden sein mit dem, was ihr gelungen war: den Emmer nach ihrem Willen wachsen zu lassen. Jetzt hielt sie die Zeit für gekommen, ein weiteres zu tun - etwas, das sie schon einige Zeit bewegte. Aber immer noch hatte sie gezögert, es mit ihrem Mann zu besprechen. Nun sagte sie es ihm ganz unvermittelt: »Wir sollten die Höhle verlassen und bei der Quelle wohnen. Dort können wir besser auf unser Korn achtgeben.« Der krummbeinige Jäger sah sie an, als sei sie ein Kind, das ihm seinen Honig stehlen will.
»Die Menschen sollen beieinander bleiben«, erwiderte er, »um das Feuer sitzen bei Nacht, Geschichten erzählen, wenn die Jagd vorbei ist.«
»Warum bist du immer so sicher, daß nur du recht hast?« fragte sie. Schon wollte Ur sich über ihre Frage lustig machen, als sein Blick auf ihr lebhaftes Gesicht fiel. Sie war eine zierliche Frau, mit langem schwarzem Haar und einem kleinen festen Kinn, das ihn immer an die frohen Zeiten erinnerte, als sie noch im Mondschein auf dem Felsen lagen und zu den Sternen hinaufsahen. Sie hatte stets schwer gearbeitet, war eine zärtliche und fürsorgende Mutter gewesen, aber sie hatte schon von jeher ihren eigenen Kopf gehabt (und
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