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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Ansehen bei seinen Leuten. Er war achtmal so groß, wie seine Hand lang war. Die stämmige Gestalt mit den mächtigen Schultern war kennzeichnend für seine Art. Über dem Bart leuchteten die hellen, blauen Augen und die roten Backen, die sich beim Lachen nach oben zogen -und er lachte viel. Da seine eigenen Kinder schon groß waren, spielte er gern mit den Sprößlingen seiner Verwandten, wenn die kleinen, drallen Gören über den Felsen krabbelten. Anders als seine Urahnen aus Afrika, von denen er freilich nichts wußte, ging Ur aufrecht; er hatte auch keine dicken Augenbrauenwülste mehr, und die glatte Haut seines Körpers war kaum behaart. Er war Rechtshänder; warum allerdings die rechte seiner beiden ziemlich kleinen Hände geschickter war, warum sie am meisten tat, und weshalb er nur mit ihr warf, vermochte er nicht zu begreifen. Auch seine Haut hatte eine Eigenheit, die ihn manchmal verwunderte: Unter dem Bärenfell blieb sie rötlich, fast weiß, aber wo die Sonne sie treffen konnte, wurde sie dunkelbraun, so daß Ur und die Seinen von weitem wie Schwarze aussahen. Und auch das wußte Ur nicht: In den letzten Jahrzehntausenden waren Zunge, Kehlkopf und Unterkiefer des Urmenschen so umgewandelt worden, daß nun auch eine artikulierte Sprache hatte entstehen können. Ur verfügte über einen Sprachschatz von mehr als sechshundert Wörtern - manche davon dreisilbig, einige wenige sogar vier- oder fünfsilbig. Alle hundert Jahre etwa wuchs der jungen Menschheit damals soviel an neuen Erfahrungen zu, daß es neuer Wörter bedurfte, das Neue ausdrücken zu können. Doch das war ein langsames Geschehen, und Ur und seine Nachbarn waren dabei äußerst vorsichtig: Konnte nicht das Aussprechen eines zuvor unbekannten Wortes das Gleichgewicht in der Welt stören und fremde Kräfte heraufrufen, die man besser in Ruhe ließ? So begnügte man sich lieber zunächst mit den Lauten, die Zeit und Erfahrung hatten vertraut werden lassen. Eines aber hatten diese frühen Menschen schon gemerkt: daß sie mit ihrer Stimme mehr als nur zu sprechen vermochten. Sie konnten singen, nicht alle zwar, aber besonders gern taten es die Frauen. Ur hörte manchmal am frühen Morgen Frau und Tochter wohltuend heitere Töne singen - bekannte Wörter klangen darin, aber auch sinnleere neue wie etwa traaa und seeeh. Noch in der Nacht waren die beiden Jäger ohne Beute heimgekehrt; das Feuer hatte man abgedeckt, die Kinder schlafengelegt. Jetzt rückten alle im Dunkeln näher an Ur heran, während ein Luftzug aus dem tiefen Schacht Kühlung brachte. Und Ur, dessen Augen immer noch verschwollen waren, erzählte: »Von der Quelle Makor, von den Tiefen des Wassers erhob sich eine einzelne Biene und rief: >Folge mir, folge mir.< Ich lief durch das Wadi, bis die Sonne sank, lief über Stock und Stein, auf der Fährte des Hirschs und des wilden Ebers, immer dem Ruf der Biene nach: >Folge mir, folge mir.< So kam ich zu dem Versteck im Baum, das alle gesucht und keiner gefunden hatte.« Er erzählte weiter, wie er den abgestorbenen Baum hinaufgeklettert war, wie er furchtlos trotz der wütenden Bienen mitten in das Herz ihres Schatzes hineingegriffen hatte. Als er von der süßen Last berichtete, mit der er seine Bärenhaut beladen hatte, warf er den Kopf zurück und hob die Stimme, in der Ekstase des Jägers, der sich in den Geist des Beutetieres versetzt:
    »Brennend vor Schmerz brachte ich den Honig heim.
    Meine Augen vor Schmerz geschlossen, folgte ich der Stimme.
    Denn die Biene flog mir voran und sang:
    >Ur fand unseren Honig,
    Ur, der große Jäger, hatte keine Furcht.
    Ich führe ihn zurück, heim zu seiner Höhle.
    Zurück zur Quelle führe ich den tapfren Jäger.<«
    Außer den Atemzügen der ruhig schlafenden Kinder regte sich nichts in der Höhle. So konnten alle die Stimme der Biene hören, die den Jäger heimführt. Ur hätte wahrscheinlich sein ganzes Leben damit zugebracht, Wild zu jagen, wilden Honig zu sammeln und dann am Feuer davon zu erzählen, wäre seine Frau nicht gewesen. Sie stammte nicht aus der Höhle, und deshalb war sie anders als die Menschen dort. Vor vielen Jahren - Ur durfte damals gerade erst an den Jagdzügen teilnehmen - hatte sein Vater die Jäger weit in das Land östlich des Flüsternden Meeres geführt. Dort waren sie auf ein fremdes Volk gestoßen, und wie immer hatte es Kampf gegeben. Erst nach dem Gemetzel hatten sie ein zwölfjähriges Mädchen entdeckt, das am Leben geblieben war. Urs Vater hatte es

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