Die Quelle
Nu war er von Kindern umringt, die ihn von der Quelle zur Höhle zogen, auf sein entstelltes Gesicht zeigten und vor Freude laut kreischten. Furchtlos faßten sie die Bärenhaut mit dem Honig an. Das Wasser lief ihnen im Munde zusammen. Als Ur jedoch die sichere Höhle betrat und stolz die köstliche Beute auspackte, fand er noch mehr als ein Dutzend Bienen in der Wabe gefangen. Mit seinen dicken, gequollenen Fingern pickte er sie heraus und ließ sie fliegen.
»Mach mehr Honig für uns«, sagte er zu jeder, »und mach ihn im selben Baum.« Die Höhle, in die sich Ur zurückzog, hatte nur eine schmale, etwa doppelt mannshohe Öffnung. Im Innern aber erweiterte sie sich zu einem dunklen, großen Raum, der vielen Menschen Platz bot. Am andern Ende verengte sie sich zu einem Schacht, der unter der Felswand in der Erde verschwand. An der Decke war ein enger Spalt, durch den der Rauch abziehen konnte, während aus der Tiefe des Schachts frische Luft zuströmte, so daß es in der Höhle recht behaglich war. In der Mitte wurde ein schwelendes Feuer unterhalten, in das die Frauen neue Holzscheite warfen, wenn sie kochen wollten; an den rußgeschwärzten Wänden sah man Speere, Keulen und Tierhäute, die zum späteren Gebrauch trockneten, sowie Körbe voller Körner wilder Getreidegräser.
Es war eine warme, wohnliche Stätte, ein Unterschlupf, der seit mehr als zweihunderttausend Jahren immer wieder menschlichen Wesen Zuflucht geboten hatte.
Zu Urs Tagen lebten dort sechs miteinander verwandte Familien, Brüder einer Sippe, die Schwestern einer anderen geheiratet hatten - eine enge Gemeinschaft, geschart um das eine Feuer und vereint in gemeinsamer Nahrungssuche. Die Männer waren Jäger, die weit umherzogen, um mit kräftigen Speeren und Pfeilen Wild zu erlegen. Sie schlichen nicht mehr, wie einst ihre Vorfahren, dumpf und tierhaft vorzeitlichen Ungeheuern nach, um sie zu Tode zu steinigen, sondern waren geschickte Jäger, die wußten, wie man der Gefahr zu begegnen hatte. Ihre Frauen gerbten die Häute der erlegten Tiere und verarbeiteten sie zu geschmeidigem Leder. Viele Stunden lang sammelten sie Körner von Gräsern, die da und dort flächenhaft den Boden bedeckten. Dabei hielten sie Tierhäute unter die braungelben Halme, schlugen die Ähren mit Stöcken und fingen die kostbaren Körner auf. In steinernen Handmühlen wurden die Körner zu Mehl zerrieben, das den Winter über frisch blieb. Die Kinder spielten auf den flachen Felsplatten und balgten sich in der Sonne wie junge Bären. Abends versammelten sich alle um das flackernde Feuer, die Männer erzählten, was sie tagsüber erlebt hatten, und die Frauen nähten mit knöchernen Nadeln Felle.
Als Ur mit seinem Honig erschien, hörte in der Höhle jedes Tun auf. Alle stürzten sich wie eine Meute wilder Tiere auf den seltenen Schatz, denn für die Höhlenbewohner war Honig die einzige Leckerei. Für eine Weile war der rauchgeschwärzte Raum von Grunzen und Schmatzen erfüllt, während alle Hände nach der süßen, wachsigen Nahrung griffen. Die Kinder hatten es nicht leicht, ihren Anteil zu ergattern, aber Ur half ihnen, sich zwischen den Erwachsenen durchzudrängen, und ihre quietschenden Freudenschreie bewiesen, daß auch die kleinen Hände den Schatz erreicht hatten. Zwei weniger tüchtige Jäger waren noch auf der Wildfährte, aber niemand dachte daran, ihnen etwas vom Honig aufzuheben; ehe man sichs versah, war Urs Bärenfell leer. Die Höhlenleute spuckten das Wachs in eine Schüssel, in der es dann geschmolzen werden sollte, um Sehnen zum Nähen damit einzureiben. Jetzt endlich, nachdem der Honig aufgegessen war, ließ sich Ur auf einem großen Stein nieder, um sich von seinem Weib das verschwollene Gesicht mit Wasser kühlen und die toten Bienen aus dem Bart kämmen zu lassen. Urs Sippe hielt enger zusammen als manch andere. Der krummbeinige Alte führte sie an; zweiunddreißig Sonnenumläufe hatte er nun erlebt, und damit näherte sich die Zeit, da er sterben mußte. Seine Frau war auch schon dreißig. Sie sorgte für die Kinder: einen Sohn, der gar keine rechte Lust zum Jagen hatte, was Ur mit Sorge erfüllte, und eine Tochter von elf, ein lebhaftes Mädchen, fast schon alt genug, einen Mann zu haben. Sie mochte aber keinen aus der Höhle besonders gern, und ein Fremder war bisher nicht gekommen, sie mitzunehmen. Ihre Mutter hoffte allerdings, daß der Fremde dann bei der Familie bleiben und einmal Urs Platz einnehmen werde.
Der alte Ur stand in hohem
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