Die Quelle
zuerst zu mir. Ich heiße Jom Tow ben Gaddiel.« Und er führte die Familie, die kaum Gepäck besaß, einen steilen Pfad hinab und durch nur wenige Fuß breite Gassen, bis es
Rachel ganz schwindlig geworden war. »Ich hab’ euch ja gesagt, wir stürzen den Berg hinab«, maulte sie.
Sie gelangten an einen Platz - keine weite europäische Piazza war es, sondern lediglich ein von Häusern umstandenes Ruheplätzchen von vielleicht zwanzig Fuß Durchmesser. Hier blieben sie stehen, und Rabbi Zaki konnte Safed mit Muße betrachten: eine enggebaute, warme Stadt, in der die Juden sich wohl fühlten. Dann kletterten sie den Berg hinunter, bis sie zu Jom Tows Haus kamen. Von seiner Haustür aus konnte man die Berge im Westen, die Paßstraße und weite, bis zum Horizont sich erstreckende Felder überblicken. Zaki barg sein Gesicht in den Händen und dachte: Danach haben wir uns immer gesehnt. Seine Frau aber dachte an Podi und Saloniki und Izmir und all die anderen schönen Städte, die sie kennengelernt hatte, und war untröstlich.
Als es sich bei den Juden von Safed am nächsten Tag herumgesprochen hatte, ein Rabbi aus Italien sei zugezogen, kamen viele in Jom Tows Haus, um dem Fremden Fragen zu stellen. Viele wollten wissen, warum ein Jude eine so gute Freistätte wie die Stadt Podi hatte verlassen können, wozu Rachel nur keifte: »Ja, warum?« Zaki erklärte, welche Befürchtungen ihn dazu bewogen hatten, und wie er seit sieben Jahren darauf ausgewesen war, nach Safed zu kommen. Der Ruf der Gebirgsstadt sei in die ganze Judenheit gedrungen, und deshalb habe er den Wunsch gehabt, an der brüderlichen Gemeinschaft teilzunehmen. Seine einfachen Worte wurden mit Schweigen beantwortet, als wüßten die Männer von Safed, daß sie so hohes Lob nicht verdienten. Während dieses Zauderns betrachtete Zaki die Gesichter der Umstehenden: bärtige, tief gefurchte Gesichter, aus denen die stille Ausstrahlung der Stadt zu sprechen schien. Die Männer kleideten sich orientalisch; manche trugen sogar Turbane, und über allen lag eine besondere Würde, als hätten sie in vielen
Jahren gelernt, ihre Gefühle und flüchtigen Gedanken zu beherrschen. Das sind Männer von einer Geisteskraft, die meine Fähigkeiten weit übertrifft, dachte Zaki. Und er fragte sich, ob er wohl einen Platz unter ihnen zu behaupten vermöchte.
Seine Besorgnis wuchs, als Jom Tow sagte: »Wollen wir einmal durch die Straßen gehen?« Zaki ließ seine Frauen zurück und sah sich die neue Heimat an. Zunächst führte ihn Jom Tow zu dem kleinen Platz zurück, wo er am Abend zuvor mit seiner Familie gestanden hatte. Von hier aus ging es über einen schmalen Heckenweg in südliche Richtung. Zu Zakis Überraschung stießen sie dort auf eine Jeschiwa. Ein Mann Ende der Fünfzig legte nahezu hundert hier versammelten Frommen den Talmud aus. Es war der große Rabbi Joseph Karo aus Safed, ein kühler, überlegener Redner und Gesetzesdeuter. Nie zuvor hatte Zaki eine so große Talmudhochschule gesehen, nie hatte er geahnt, daß so viele Juden sich für Disputationen über das Gesetz interessierten.
Jom Tow führte ihn darauf ein Stück bergabwärts und nach Westen zurück. In einem geräumigen Haus stellte er ihn einem noch berühmteren Lehrer vor, dem hochgelehrten Mose ben Jacob aus Cordoba. Von allen Männern der Stadt war er in den Geheimnissen der Kabbala am besten bewandert. Auch er hatte eine Hörerschaft von fast hundert Schülern, die seinen verwickelten Spekulationen lauschten. Zaki wußte, daß er sie nie würde verstehen können. Darauf führte Jom Tow seinen wohlbeleibten Gast abermals auf eine andere Höhe, in einen Teil der Stadt, wo vier Synagogen dicht beieinander standen. Jede hatte ihren eigenen Rabbi, zu jeder gehörten sechzig bis siebzig Gelehrte. »Safed ist ja eine Stadt der Wissenschaft«, rief Zaki auf Ladino. In Izmir hatte er einige Brocken dieser Sprache aufgeschnappt, die in allen Vierteln von Safed, außer in dem der Juden aus Deutschland, als Umgangssprache diente.
»Aber auch eine Stadt der Arbeit«, erwiderte Jom Tow und ging mit ihm zu einem großen Gebäude. Ein Gebirgsbach polterte mitten hindurch und trieb vielerlei mechanische Vorrichtungen an. Hier erst erfuhr Zaki, daß sein Führer nicht nur ein angesehener Rabbi war, sondern auch der erste Stoffabrikant von Safed. Er beschäftigte dreihundert Männer, die Wolle kämmten, walkten, wuschen und färbten.
»Bei uns in Safed heißt es >Ohne Arbeit keine Thora<«, erklärte der
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