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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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sie sich jahrelang willenlos dahintreiben, ohne etwas zu schaffen. Ein Fremder, der den Ort in seinem derzeitigen Zustand erlebte, hätte nie geglaubt, daß dies die ehemals so stolze Residenz des Herodes gewesen war, noch hätte er hier jenes Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit vermutet, das der Welt die schriftliche Fixierung der traditionellen Form des Alten Testamentes und den Talmud geschenkt hatte. Man konnte sich auch nicht vorstellen, daß diese Mauern einmal eines der wichtigsten Bollwerke der Kreuzfahrer umschlossen hatten, denn es hausten jetzt nur ein paar Hundert Araber in einem Viertel der Stadt und wenige Juden in einem anderen, in dem sich zudem die Sefardim streng von den Aschkenasim schieden, während eine Handvoll Christen am südlichen Rand der Stadt ansässig war. An erstickend heißen Tagen wie diesem, wenn das Thermometer auf dem Balkon des Kaimakam - des türkischen Beamten, dessen Stellung etwa der eines Landrats entsprach - mehr als 50 Grad anzeigte und nicht der geringste Luftzug Linderung brachte, lagen die Einwohner von Tiberias keuchend in ihren Betten und hofften, daß die Nacht Erleichterung bringen werde. In dieser von Ungeziefer wimmelnden Stadt gab es nur einen Mann, der es sich kühl machen konnte. In einem tief gelegenen Raum über einem Keller, der während des Winters mit Eis aus den Bergen vollgepackt worden war, lag er behaglich ausgestreckt in
    einem Bambusstuhl, ein gut aussehender, stattlicher Mann von etwa vierzig Jahren. Seine dicken Beine waren höher gelagert als sein Bauch, um den Kopf trug er ein feuchtes Tuch, im übrigen war er, von einem kleinen Lendenschurz abgesehen, nackt. Seine einzige Beschäftigung bestand darin, Rebensaft zu trinken, den er mit ein paar Stückchen Eis aus dem Keller gekühlt hatte. Trotzdem schwitzte dieser freundlich aussehende Mann, dessen Gesicht ein großer Schnurrbart zierte. Er tat es nicht wegen der Hitze. Er war in reichlich knifflige, nicht ganz ungefährliche Pläne verwickelt. Zwei Parteien von Klägern hatten ihn um seine Entscheidung wegen eines Grundstücks ersucht: auf der einen Seite der stets in ein weißes Gewand gekleidete Kadi und der rotgesichtige Mufti, die sich zusammengetan hatten, auf der anderen Seite Schemuel Hakohen, ein verwachsener Jude aus Rußland - er hoffte auf ein Urteil, genau entgegengesetzt dem, das der Kadi und der Mufti herbeiführen wollten. Und Faradsch ibn Ahmed Tabari, der Kaimakam von Tabarije, wie Tiberias jetzt hieß, hatte sich einen Trick ausgedacht, der es ihm möglich machen sollte, beiden Seiten gehörig Bakschisch abzupressen, ohne sie zufriedenzustellen - eine Lösung, die ganz und gar seiner Auffassung von der rechten Art der Verwaltung entsprach. Tabari lag in seinen Stuhl zurückgelehnt und sah vor seinem geistigen Auge die Kläger, wie sie in wenigen Stunden vor ihm stehen würden. Der gerötete Mufti lärmend:    »Als
    Rechtsgelehrter und religiöses Oberhaupt der hiesigen Moslems verlange ich.« Der weißgekleidete kleine Kadi, zitternd um sein Richteramt und deshalb schmeichelnd: »Exzellenz, ich finde, Sie sollten.« Und Hakohen, ein Mann von unbeirrbarer Entschlossenheit, würde dastehen, den linken Fuß ungeschickt vorgeschoben, und bittend vorbringen: »Eine Schiffsladung Juden ist gelandet in Akka.« Und jeder hatte in seiner Tasche eine Handvoll Goldmünzen bei sich, schöne, sichere britische Sovereigns. Es war eine der Situationen, die der Kaimakam zu schätzen wußte. Aber der wahre Grund, warum Tabari schwitzte, hatte nichts mit diesem raffinierten Doppelspiel in Sachen des Grundstücks zu tun, noch lag es an der drückenden Hitze. Tabari war nervös, weil er fühlte, daß der Augenblick immer näher rückte, zu dem er für seine Meinung über die Zukunft des Memaliki Osmanije einzutreten hatte - über die Zukunft des Türkischen Reiches. Und davor hatte er Angst. Kurz vor dem letzten Krieg zwischen Rußland und der Türkei hatte der Sultan höchstselbst dank eigener Machtvollkommenheit seinem Reich eine Verfassung gegeben, und die Herzen aller reformfreudigen jungen Männer in Tabaris Alter hatten voller Hoffnung höher geschlagen; aber genauso willkürlich hatte der Sultan die Konstitution und die Rechtsgleichheit aller seiner Untertanen wieder aufgehoben, und die Jungtürken mußten damit rechnen, daß Despotie und Tyrannei noch auf unbestimmte Zeit anhielten. Deshalb galt jetzt es für einen Mann von Charakter, Partei zu ergreifen. Der zweiundvierzigjährige Tabari

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