Die Quelle
hartnäckigen Jäger blieben ihm auf der Fährte. Nun lief das riesige Tier hinunter ins Tal, bis die Männer das Flüsternde Meer vor sich sahen, das Ur schon seit langem kannte, sein Schwiegersohn aber nicht. Sie folgten dem Eber zum südlichen Ufer, wo heiße Wasser aus der Erde quollen, und dort, in einem Dickicht aus Pistazien und Dornengestrüpp, stellten sie ihn endlich.
»Denk daran, was ich dir gesagt habe«, rief Ur, als sie sich anschickten, von links und rechts das wütende Tier anzugehen. Urs Herz schlug schneller als sonst, und als er allein war, flüsterte er: »Ich darf jetzt nicht sterben. Nicht ehe der Eber tot ist. Der junge Jäger weiß nicht, wie.«
Mit einem Schrei flog der Jäger in die Luft - der Eber hatte ihn in die Reichweite seiner blitzenden Hauer gelockt.
»Laß dich nach hinten fallen«, schrie Ur und rannte ins Dickicht. Aber sein Schwiegersohn konnte dem Fall nicht die rettende Richtung geben, denn er hatte keinen Halt mehr. Er stürzte abermals in die Hauer. Rasend zerfleischte der Eber ihn. Noch ehe sich Ur durch das dichte Gestrüpp vorarbeiten konnte, eilte das Tier weit ausgreifend nach Norden. Und zurück blieb der junge Jäger, zerfetzt, tot. Das war die Stunde, in der die Unergründlichkeit des Lebens den alten Mann überwältigte, das schrecklich schmerzhafte Geheimnis des Menschen, der sich gegen die Kräfte in der Welt rings um ihn gestellt hat. Er sah auf seinen toten Sohn, er dachte an die Frau dieses Mannes und an seinen kleinen Knaben. »Ich war bereit für den Tod!« schrie der Alte. »Warum hat er ihn genommen?« Er hörte das Tier wie zum Hohn durchs Dickicht krachen. »Warum darf so das Böse siegen?« lehnte sich Ur auf und zerriß sein Fell in ohnmächtigem Zorn. Ur dachte an den nutzlosen Monolithen, den seine Leute aufgerichtet hatten, um die Kräfte zu versöhnen. Und er überlegte, was er noch hätte tun sollen, um seinen tapfersten Jäger zu retten. Was hatte er versäumt? Trauernd stand er bei dem Mann, den er mehr geliebt hatte als sein Weib, mehr als die Quelle oder die Höhle, und er begann nach Worten zu suchen, die seinen tiefen Gram ausdrücken sollten: »Warum ist der junge Jäger tot?
Warum lebe ich?
Warum siegt der böse Eber?
Warum grollt er?
Wo läuft der Pfad nach Hause?
Warum ist er verlegt?
Warum verbirgt die Sonne ihr Gesicht?
Warum spottet sie?«
Nun, da er das Unglück der letzten Tage begriff, bewegten ihn wieder jene rätselvollen Gedanken, die ihm zum erstenmal gekommen waren, als er sein verwischtes Spiegelbild in der Quelle sah. Hatte der Eber diesen Tag der Schrecken heraufgeführt, oder war es eine Macht, viel größer als Eber, als Blitz und Sturm - ein Wesen außerhalb all dieser Kräfte? Tief im Dickicht stand Ur, gebeugt über die Leiche seines Sohnes, und grübelte.
Die Qual, die Ur in dieser Nacht durchlitt - das Geheimnis des Todes, der Sieg des Bösen, die fürchterliche Einsamkeit des Alleingelassenen, die Entdeckung, daß das Selbst unzureichend ist -, daher stammt die Angst, welche die Welt bis zum heutigen Tage peinigt.
Tonstatuette der kanaanitischen Göttin der Fruchtbarkeit, Astarte oder Aschthar. Die bei den Hebräern Aschtoret (Mehrzahl: Aschtarot), bei den Assyrern und Babyloniern Ischtar, bei den Griechen Aphrodite genannte Göttin erscheint wiederholt in den Büchern des Alten Testaments als ständige Versuchung der Hebräer. 2204. v. Chr. in der Hafenstadt Akka in einer zweiteiligen Form gegossen, bei 750° C gebrannt. An einem Herbsttag des Jahres 2202 v. Chr. kurz nach der Abenddämmerung absichtlich an der Stadtmauer von Makor vergraben.
Schicht XIV
Um Tod und Leben
Hoch am Himmel über der Wüste zog ein Geier seine Kreise. Seine scharfen Augen starrten auf ein fast unsichtbares Etwas, dorthin, wo Gebüsch an der Grenze von Treibsand und fruchtbarem Boden gewachsen war. Die Flügel flach gegen die aufsteigende Luftströmung gebreitet, kreiste der mächtige Vogel endlos über der winzigen Stelle, die er nicht aus den Augen ließ. Denn dort unten rang Leben mit dem Tode. Keinerlei Ungeduld zeigte der Geier, und noch immer blieb er in gleicher Höhe. Sobald die Entscheidung zugunsten des Todes gefallen war, konnte der Raubvogel schnell genug hinabstoßen. Bis dahin aber umflog er wartend sein Ziel.
Jetzt hatte sich das Bild dort unten gewandelt. Offenbar war der Tod Sieger geblieben. Der Vogel zog die Flügel zu jähem Sturzflug ein. Aus dem warmen Aufwind, der ihn getragen hatte, gelangte er
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