Die Quelle
in die kühleren Schichten außen und ging nun in einem weiten Bogen nieder, das Auge immer noch auf jenes Etwas gerichtet, das eben gestorben sein mußte. Schnell und entschlossen galt es zuzupacken. Denn nicht lange konnte es dauern, bis andere Vögel die leblose Beute ausfindig gemacht hatten und gleichfalls hinabstießen, um sie sich anzueignen. Doch an diesem Tag sollte der einsame Geier der Todesengel sein. Auf leisen Schwingen kam er näher und näher.
Auf dem Boden lag ein kleiner Esel. Sein Hinterlauf hatte sich in einer Astgabel des Wüstengestrüpps verfangen; seine Versuche, sich wieder freizumachen, hatten ihn erschöpft. Vergeblich hatte er geschrien und gezogen und gezerrt; nun war er am Ende. Sehr nahe war der Tod, denn von der Wüste her wehte ein dörrender Wind, der das hilflose Geschöpf fast verdursten ließ. In dieser äußersten Not hatte der Esel aufgegeben - und dieses Aufgeben war vom kreisenden Geier als Tod gedeutet worden. Die erlöschenden Augen des kleinen
Grautiers sahen den Vogel näher und näher kommen. Beide waren auf den Tod gefaßt.
In diesem Augenblick erschien ein Nomade. Er bahnte sich seinen Weg durchs Gebüsch am Rande der Wüste. Der bärtige Mann trug Sandalen, deren Riemen bis hinauf zu seinen Knöcheln reichten; über der rechten Schulter war ein gelber, mit roten Mondsicheln gemusterter Mantel befestigt. Mit seinem Schäferstab hieb er das Gesträuch nieder, denn er suchte einen Esel, der seiner Herde entlaufen war. Ab und zu blieb der Mann stehen und lauschte. Kein Geräusch war zu vernehmen. Dann aber sah er das Niedergehen des Geiers. Wie er es von seinem Vater gelernt hatte, der ebenfalls Nomade gewesen war, schloß er aus dem Verhalten dieses Aasjägers, wo sein Esel sein mußte. Das Erscheinen des Geiers ließ ihn zwar befürchten, das kleine Tier könne schon verendet sein; trotzdem hastete er weiter, und gleich darauf schob sein Krummstab das letzte Gestrüpp auseinander - am Boden sah er seinen Esel liegen, ganz nahe dem Tod, jetzt aber dem Leben wiedergegeben.
Der ums lockende Mahl betrogene Geier stieß einen krächzenden Wutschrei aus, stieg, vom Aufwind getragen, in großen Kreisen bis in eine Höhe, aus der er für den Hirten im Gestrüpp am Rande der Wüste nahezu unsichtbar wurde, und weil er sich einstiger glücklicher Funde erinnerte, segelte der Vogel schwerelos westwärts, über grünes Land, dorthin, wo er in früheren Tagen oft auf Beute gestoßen war, bis er zum Hügel von Makor kam. In dieser Stadt sollte sehr bald schon ein anderer Kampf um Tod und Leben stattfinden, ein Kampf zwischen mächtigeren Gegnern, als ein verirrter Esel, ein hungriger Vogel und ein Nomade in gelbem Mantel mit Mondsicheln darauf es sein können.
Es war im Frühsommer des Jahres 2202 v. Chr. In den mehr als siebentausend Jahren, die seit dem Tag verstrichen waren, an dem die Familie des Mannes Ur den Monolithen auf dem Felsen errichtet hatte, war hier vieles anders geworden. Kein Geschichtsschreiber hat festgehalten, wie eine Kultur der anderen gefolgt war - manche hatten ein Jahrtausend überdauert, andere, mit geringerem Erfolg, nur zwei- oder dreihundert Jahre. Von jeder aber war Schutt zurückgeblieben, wenn die Behausungen zerstört und die Bewohner in die Sklaverei verschleppt worden waren. Trümmer hatten sich auf Trümmer gehäuft, so daß jetzt der Felsgrund von gut sechs Meter hohem Schutt bedeckt und damit selbst die Erinnerung an ihn begraben war. Nur der alte Monolith streckte aus sicherem Grund seine Spitze noch um mehr als einen Meter durch den Schutt ins Sonnenlicht. Er war das größte Heiligtum des ganzen Landes ringsum: Die Menschen glaubten, durch die Götter selbst sei er an seinen erhabenen Platz gestellt worden. Alles andere war verschwunden. Das Dach der Höhle war eingestürzt, die Öffnung verschüttet, durch die in zahllosen Jahrtausenden so viele Menschen aus- und eingegangen waren; nicht einmal die Ziegen konnten mehr in die kühle Stätte gelangen. Um die Quelle, die noch immer alles Leben an diesem Ort ermöglichte, hatte Erde hoch sich aufgetürmt, so daß man jetzt lange Stricke brauchte - fünfmal so lang, als ein Mann hoch war -, um den Wasserspiegel zu erreichen; die Steine, die den oberen Rand der Brunneneinfassung bildeten, hatten tiefe Kerben dort, wo die Mädchen von Makor mit ihren Stricken die Wasserkübel heraufzogen.
Auf dem Hügel lag nun eine Stadt von etwa hundert Häusern, aus ungebrannten Lehmziegeln erbaut. An die
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