Die Quelle
Unterhalb der ersten Grube befand sich eine zweite, unter dieser eine dritte, alle miteinander verbunden durch einen in den Fels gebohrten Gang. In ihm konnte das Olivenöl aus der Preßgrube in die zweite und dritte abfließen und verlor dabei allerlei Rückstände und Unreinigkeiten. Dieses wohldurchdachte Verfahren sollte in den nächsten viertausend Jahren kaum verbessert werden.
Urbaal tauchte seinen Finger in die unterste Grube, prüfte den Geschmack und war zufrieden. »Gut«, sagte er zu dem Vorarbeiter.
»Dies Jahr gewinnst du bestimmt.« Der Vorarbeiter zwinkerte ihm zu. Aber da stieg in Urbaal wieder die Angst auf, die ihn quälte. »Wie geht es Amalek mit seinen Rindern?«
»Sehr gut, wie man hört«, antwortete der Vorarbeiter.
»Ihm geht es immer gut«, sagte Urbaal. Jetzt versuchte er nicht einmal mehr, seine Sorge zu verhehlen.
Der Vorarbeiter trat näher zu ihm heran. »Wir könnten ein paar Hunde unter seine Kälber loslassen.«
Urbaal schüttelte den Kopf. »Solche Schliche haben wir nicht nötig. Aber ich hoffe, du bewachst die Gruben für den Fall, daß er so etwas vorhat.« Der Vorarbeiter zeigte auf eine Hütte, die er unlängst gebaut hatte. Vier in die Erde gesteckte Pflöcke trugen eine zwei Fuß über dem Boden liegende Plattform, überdacht mit Zweigen. »Von nun an schlafe ich in der Hütte, bis zum Ende der Ernte«, sagte der Vorarbeiter. Jetzt war Urbaal zuversichtlicher. Nachdem er auch zum Baal der Ölgruben gebetet hatte, verließ er den Hain voller Hoffnung. Doch als er durchs Stadttor kam, begegnete er dem einzigen Menschen, der dieses Gefühl zunichte machen konnte, dem
Viehzüchter Amalek, einem sehnigen Mann, größer und jünger als Urbaal, mit mächtigen Wadenmuskeln und einem selbstbewußten Grinsen im freundlichen, sonnenverbrannten Gesicht. Dieser Amalek war ein ernstzunehmender Gegner, denn er hatte schon einmal gewonnen und ganz offensichtlich die Absicht, abermals zu gewinnen. Er grüßte Urbaal mit freundschaftlichem Winken und verließ die Stadt mit langen Schritten und wiegendem Gang.
Kaum war Urbaal in sein Haus getreten, erfuhr er bereits das Schlimme - das, was Timna befürchtet hatte: Die
Melakpriester waren wiedergekommen und hatten ihren Bescheid verkündet: »Die Sterne zeigen an, daß von Norden her ein Angriff droht. Durch ein Heer, größer denn je zuvor. Wir müssen dem vorbeugen. Melak muß helfen. Morgen werden die Erstgeborenen geopfert.« Mit roter Farbe, die sie von der Meeresküste erhielten, bestrichen sie die Handgelenke des Söhnchens und wiesen dann den Bauern an, dem Geschrei seines Weibes Einhalt zu gebieten. Ihre unerbittliche Gleichgültigkeit bewies, daß nichts den Entschluß umstoßen konnte. Dann stolzierten sie aus dem Haus, zu sieben weiteren angesehenen Familien, um auch dort die Handgelenke erstgeborener Söhne zu färben.
Urbaal konnte Timnas Wehklagen nicht mehr hören und verließ deshalb sein Haus. Auf der Straße begegnete ihm abermals Amalek, der in die Stadt zurückhastete. Als Urbaal den gequälten Ausdruck im Gesicht des Rinderzüchters sah, wußte er, daß die Wahl der Priester auch auf Amaleks Sohn gefallen war. Die beiden Männer sprachen kein Wort miteinander, denn wenn einer auch nur das geringste Mißfallen über den Beschluß der Priester bekundete, bedeutete dies Unheil für sein Haus.
Die Priester von Makor waren unerbittlich. Aber deshalb waren sie nicht etwa grausam. Das, was sie taten, war für sie keineswegs Barbarei. Sie befahlen nur, was zum Wohl der Stadt unbedingt erforderlich war. Und das konnten nur sie allein wissen. Als die einzigen des Schreibens und Lesens Kundigen schickten sie ihre mit Keilschrift bedeckten Tontäfelchen nach Mesopotamien, und nach Ägypten Botschaften in Hieroglyphen. Sie verstanden sich auf die Geheimnisse der Zahlen und der Gestirne, sie wußten, was im Ablauf des Jahres zu geschehen hatte, damit das Getreide gedieh. Und ohne ihre Kenntnisse wäre ein geordnetes Leben in Makor unmöglich gewesen, denn sie waren zugleich auch Ärzte und Richter. Sie verwalteten die weiten Ländereien des Königs, beaufsichtigten seine Sklaven und hüteten die Speicher, in denen Nahrungsmittel für Zeiten der Hungersnot gelagert waren. Allein die Priester verstanden das Geheimnis des aus der Erde sich erhebenden El und das des Melak mit dem feurigen Schlund. Wenn sie entschieden hatten, daß ein drohender Krieg nur durch ein neues Brandopfer abzuwenden war, so mußte man sich ihnen
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