Die Quelle
fügen. Denn sie waren die Weisen. Nach der letzten Zerstörung Makors hatte ein Priester denen, die mit ihm den Untergang überlebt hatten, verkündet: »Unheil kam, weil ihr in den vergangenen Jahren dem Melak nur Söhne aus armen Familien oder Knaben mit körperlichen Mängeln geopfert habt.« Die matt gewordene Bereitschaft zum Opfer also war Schuld: »Wenn die angesehenen Familien von Makor dem Melak ihre erstgeborenen Söhne verweigern, warum sollte Er sich darum kümmern, sie zu beschützen?« Die Überlegung war einleuchtend gewesen. Und darum wurden in der neu erstandenen Stadt nur noch die Söhne der ersten Familien dem Gott dargebracht. Schon seit der Stunde, da Timna ihr Kind geboren hatte, war es Urbaal bewußt gewesen, daß es dem Feuer gehören müsse.
Urbaal verbrachte die Nacht allein im Raum der vier Astarten. Hier erlebte er den Widerstreit von Tod und Leben in
seiner ganzen Schärfe. Denn mit rotgefärbten Handgelenken schlief in einem Winkel in der Wiege sein Sohn, nichts von dem ahnend, was morgen geschehen sollte. So war der Tod sehr nahe. Doch über dem Kind stand die neue Astarte und lächelte wohlwollend. Seit ihrer Ankunft hatten die Ölgruben reicheren Ertrag gebracht als je zuvor. Schon also brachte sie neues Leben ins Haus und neue Fruchtbarkeit. Konnte sie nicht auch die hochgewachsene Sklavin bringen? In jener seltsamen Verbindung von Todesahnung und Erotik, die für das Denken seiner Zeit bezeichnend war, lag Urbaal auf seinem Bett, lauschte erst den regelmäßigen Atemzügen seines Sohnes und träumte dann von der Sklavin im Tempel, die er so leidenschaftlich begehrte. Tod und Leben schritten durch seine Gedanken, durch das Zimmer und durch ganz Makor. Kurz nach dem Morgengrauen zogen Priester in roten Umhängen, die Trommeln schlagend und die Hörner blasend, durch die Straßen. Noch immer war Urbaal völlig wirr. Denn trotz des Kummers über den Sohn, den er verlieren sollte, hastete er zur Tür, um zu sehen, ob die hochgewachsene Sklavin im Zuge der Priester ging. Sie war nicht dabei.
Nachdem die Prozession mehrmals durch die Stadt gezogen war, verstummte das Dröhnen der Trommeln. Grenzenloses Entsetzen packte die Mütter. Da - jetzt pochte es gegen Urbaals Tür. Der Priester! Er forderte Timnas Erstgeborenen. Timna wollte verzweifelt schreien, aber ihr Mann preßte seine Hand über ihren Mund. Der Priester nickte zustimmend, als er das Kind forttrug. Nach einer Weile setzte das Trommeln wieder ein. Die Becken klirrten. Ein Horn schmetterte. Erregtes Gemurmel erhob sich in der Stadt. »Wir müssen gehen«, sagte Urbaal und faßte Timnas Hand, denn wenn die Mütter nicht zugegen waren, konnte der Eindruck entstehen, sie böten ihre Söhne nur widerwillig dem Gott. Timna, die nicht aus Makor stammte, wollte um keinen Preis an der schrecklichen Opferhandlung teilnehmen. »Laß mich wenigstens hier«, bettelte sie.
Geduldig führte Urbaal sie zum Raum der Götter und zeigte ihr seine lächelnde Astarte. »Vergangene Nacht«, versicherte er, »kam der Baal des Gewitters und scherzte mit der Göttin. Ich habe ihnen zugesehen. Sie ist nun schwanger, und auch du wirst es bald sein. Ich verspreche es dir.« Er zog sie zur Tür und zerrte ihre Hände vom Pfosten los, an den sie sich zu klammern suchte, jetzt verlor er die Geduld. Er schlug sie heftig. »Wozu sind die Erstgeborenen sonst da?« brauste er auf. »Hör endlich auf zu weinen.«
Aber auf der Straße tat sie ihm schon wieder leid. Er wischte ihr die Tränen ab. Matred, seine erste Frau, die einst selbst einen Tag wie diesen erlebt hatte, sah den beiden zu. »Auch sie soll Leid erfahren«, murmelte sie.
Ziehenden Schmerz in der Brust, führte Urbaal seine beiden Frauen über die gewundenen Straßen zum Tempelplatz. Doch bevor er die heilige Stätte betrat, holte er tief Atem und richtete sich auf. Er mußte jetzt die Angst seines Herzens niederzwingen. »Wir wollen alle tapfer sein«, flüsterte er, »denn viele werden zusehen.« Doch das Schicksal fügte es, daß der erste Mann, den er im Bezirk des Heiligtums erblickte, Amalek war. Auch er mühte sich, seinen Schmerz zu unterdrücken. Die beiden Männer, deren Söhne an diesem Tag sterben sollten, starrten einander in stummer Pein an. Keiner verriet seine Furcht. Zusammen schritten sie zu den Monolithen, bereit, die Opferhandlung mit Kraft und Würde zu bestehen. Zwischen dem Palast und den vier Monolithen der freundlichen Götter war eine Plattform aus Steinen errichtet
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