Die Quelle
Dammbruch. Die Masse der Menschen wogte an ihrem Wagen vorbei auf die Löschfahrzeuge zu. Der Soldat verschwand in der Menge der trampelnden Körper.
»Rückwärtsgang! Weg!«
Die Menschen hatten nur ein Ziel: das Wasser in den Löschfahrzeugen. Immer noch strömten die Menschen an ihrem Wagen vorbei. Weitere Schüsse fielen. Aber statt Flucht und Panik trieb es die Menschen nur weiter voran.
Endlich war ihr Wagen frei, raus aus der Menschenmenge. Hagen warf erschüttert einen letzten Blick auf die Löschfahrzeuge. Auf den Dächern tanzten johlende Menschen, als sei ein großer Sieg errungen worden.
Das Bundeskanzleramt glich von außen einer Festung. Die Straßen und Zufahrten waren schon weit vor dem Kanzleramt mit gepanzerten Bundeswehrfahrzeugen zugestellt, und mehrere Ringe von Soldaten sicherten das Kanzleramt weiträumig ab. Auf dem Ehrenhof und an den Toren waren zusätzliche Blockaden errichtet.
Kanzleramtsminister Sieber gab nur mürrisch eine Antwort, als Hagen den Zustand des Kanzleramts ansprach.
»Wir müssen arbeitsfähig bleiben. Haben Sie die Tankzüge gesehen? Benzin. Nachrichten werden durch Melder überbracht. Was hilft es uns, dass wir mit dem Technischen Hilfswerk und der Bundeswehr hier ein Mindestmaß an Erreichbarkeit sichergestellt haben, wenn die anderen Ministerien, Behörden und Polizeistellen nicht erreichbar sind? Deshalb werden wir vom THW versorgt, und die Bundeswehr schützt uns. Die Menschen suchen Schuldige.«
»Am Alexanderplatz habe ich eben erlebt, wie eine Wasserausgabe im Chaos endete«, sagte Hagen.
»Das passiert landesweit. Ich lese die Meldungen, die uns erreichen, schon gar nicht mehr. Massenpsychologie war und ist ein besonderes Phänomen.« Sieber schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich staune immer wieder, dass sich trotz der schlechten Versorgungslage noch Menschen finden, die hier Krawall machen. Gestern hat ein ganzer Trupp alle Sicherungsmaßnahmen umgangen, ist über die Mauern an der Spree geklettert und hat unten im Foyer gestanden. Mit Baseballschlägern.«
Der Kanzleramtsminister schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, sammelte sich einen Moment, um dann mit leiser Stimme das Thema zu wechseln.
»Das ist kein Stromausfall, wie wir ihn bisher kannten. Das ist ein Vorgeschmack dessen, was uns künftig vielleicht häufiger erwartet. Es zeigt, wie anfällig unsere digitale Gesellschaft mittlerweile geworden ist. Sie haben selbst gesagt, für einen Stromcrash müssen zwei Dinge zusammenkommen, da wir redundante Netze haben. Das eine Ereignis war die Überlast in den Netzen, als Frankreich im Verbund mehr Strom abgerufen hat und die Technik verrücktspielte.«
»Was aber den Crash nicht erklärt.« Hagen nickte.
»Richtig. Ich lege Ihnen die Ursache jetzt mit meinen laienhaften Worten dar, ja? So, wie ich es verstanden habe. Auch wenn die Experten auf Hunderten von Seiten mit Schaltplänen und logischen Erklärungen begründen können, dass nicht sein kann, was wir gerade erleben.«
Hagen war gespannt, wie offen die Versorger mit ihren Informationen umgegangen waren. Normalerweise wurden bestimmte technische Details geheim gehalten. Einfach aus Sorge, dass bestimmtes Wissen jene Schwachstellen offenbarte, die Saboteure ausnutzen konnten.
»Der zweite Grund ist ein Stromausfall in dem Netz, das auch Greifswald versorgt. Nicht ausgelöst durch einen defekten Trafo, einem Brand oder Ähnliches, sondern verursacht durch einen eingeschleusten Computervirus, der den automatischen Steuerungsmechanismus manipulierte. Dieser Computervirus hat sich ausgebreitet, überall festgesetzt in den Steuereinheiten. Europaweit, sagen die Schwarzseher.«
Hagen dachte an die Andeutung, die Berger bereits gemacht hatte. Es stimmte also. Eine Art erster Cyber-Angriff.
»Und sie scheinen richtigzuliegen. Immer dann, wenn die Netze, egal wo, wieder angefahren werden, simuliert er eine Über- oder Unterspannung und sorgt so dafür, dass die üblichen Mechanismen alles wieder zusammenbrechen lassen.«
»Aber wir haben doch die Chance der manuellen ...«
»Nein - haben wir nicht!«, brüllte Sieber erregt. »Er eliminiert oder manipuliert sogar die manuellen Steuerungsbefehle, wenn die Netze im Handbetrieb wieder hochgefahren werden sollen. Es gelingt nicht einmal, ihn überall zu lokalisieren. Er hat sich ausgebreitet, hat sich überall in den Steuerungen der Verteilernetze eingenistet. An verschiedenen Stellen haben sie ihn gekapselt, sozusagen eingekreist und
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