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Die Quelle

Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Schomburg
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Reichstagsgebäude blicken konnte. Auch auf dem Vorplatz brannte keine Lampe.
    »Sie sehen schlecht aus, Hagen«, sagte er nach ein paar Minuten des Schweigens, ohne sich umzudrehen. »Ringe unter den Augen, schlaffe Mundwinkel, die gleiche Krawatte wie gestern Abend. Sonst sind Sie immer wie aus dem Ei gepellt. Heute nicht!«
    Fischers kleine Provokation riss Hagen aus seinen Gedanken. Er antwortete nicht auf die Stichelei. Er stand dazu, sich mit seinen maßgeschneiderten Anzügen und den Hemden mit Manschettenknöpfen etwas von den anderen abzuheben. Sich im Laufe der Woche niemals die gleiche Krawatte umzubinden gehörte aus seiner Sicht auch dazu. Und während andere morgens zum Wachwerden vor den Google-News hingen und nach ihrem Namen in den Pressemeldungen suchten, gönnte er sich ein paar Minuten vor dem Gesichtsbräuner.
    »Die Fahrt heute Nacht vom Fernsehstudio hierher geht mir nicht aus dem Kopf. Die Ampeln alle ausgefallen, nirgends Leuchtwerbung, in keiner Wohnung Licht. Gruselig.«
    Fischer atmete tief und laut durch, sah weiter durch die Panoramafenster.
    »Wann war das? Halb zwölf? Die Hochhäuser wirkten wie bedrohliche Monster. Aber wirklich Sorgen macht mir etwas anderes. Der ganze europäische Netzverbund ist ohne Strom. Außer Großbritannien natürlich und die nordischen Länder.«
    »Die gehören ja auch nicht zum Verbund.«
    »Eben. Genauso wenig wie Russland. Wie lange werden wir hier durchhalten?«
    »Die Notstromaggregate reichen einige Zeit. Aber irgendwann hilft nur noch, dass der Strom wieder fließt.«
    »So einen flächendeckenden Stromausfall hat es noch nicht gegeben. Da ist etwas oberfaul, das rieche ich. Ich habe mit dem Chef der Bundesnetzagentur gesprochen. Nur hilfloses Gestammel. Unglückliche Umstände. Hagen, wann haben wir wieder Strom?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wir sind auf diesen GAU nicht vorbereitet. Es ist eingetreten, was angeblich nie eintreten konnte.« Fischer knurrte wütend. »Die Situation ist dramatisch. Der Behördenfunk ist zusammengebrochen. Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Krisenstäbe, Katastrophenschutz - sie alle können sich untereinander nicht mehr erreichen.«
    »Ich weiß.« Hagen wartete darauf, dass Fischer zu einer nur seinem inneren Kreis bekanten Wuttiraden ansetzte, mit denen er üblicherweise seinen Überdruck kanalisierte.
    Stattdessen drehte sich der Kanzler um und deutete zum langen, schwarzen Besprechungstisch. Hagen wandte sich nach rechts und setzte sich auf der dem Büro zugewandten Tischseite auf den äußeren Stuhl, das weite Büro im Rücken.
    »Wir haben seit acht Stunden im ganzen Land keinen Strom.« Fischer war lautlos näher gekommen und stand nun hinter Hagen. »Wir haben den Status der Krise überschritten. Wir nähern uns der Katastrophe. Was ist mit den Krankenhäusern?«
    »Die meisten halten mit ihren Notstromversorgungen zwei, drei Tage durch. Manche auch etwas länger.«
    »Haben wir bald wieder Strom, Hagen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Nehmen wir an, der Stromausfall dauert länger - was dann?«
    Hagen zögerte ein paar Sekunden.
    »Chaos. Jeder für sich. Jeder gegen jeden.« Hagen machte eine Pause, überlegte, wie er es möglichst prägnant beschreiben konnte. »Steinzeit!«

Kapitel 11
    FISCHERDORF WIECK
     
    Wieck war ein kleines, malerisches Fischerdorf mit niedrigen, reetgedeckten Fischerkaten und fest gedeckten Kapitänshäusern.
    Sie fuhren auf der nördlichen Seite des Hafens über die Mole, der Ryck links und die Häuser rechts von ihnen. Benn konnte trotz der noch herrschenden Dunkelheit etwas von dem Flair erahnen, den der kleine Ort im Sonnenlicht auf seine Besucher ausübte.
    »Was ist das?« Benn musterte die in der Dunkelheit weißlich schimmernde Silhouette einer hoch aufragenden Konstruktion, die ihn an zwei nebeneinander gestellte, mächtige und doch wieder zierlich wirkende T-Buchstaben mit Stützen an den Außenseiten denken ließ.
    »Das? Das ist die Sehenswürdigkeit hier«, antwortete der Polizist auf dem Beifahrersitz. »Eine Holzklappbrücke über den Ryck. Sie ist eine der ältesten Holzklappbrücken Europas. Und sie ist sogar noch in Betrieb. Wir werden sie gleich überqueren.«
    »Sieht irgendwie holländisch aus«, sagte Benn, der sich an eine Kohlezeichnung im Wohnzimmer seiner Großmutter erinnerte, auf der er eine solche Konstruktion schon einmal gesehen hatte.
    »Da kommt die Idee auch her«, antwortete der Polizist, während das Polizeifahrzeug langsam auf die Brücke

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