Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Sonnenaufgang. Simon Bellatori lief über den Roten Platz, der zu dieser frühen Stunde leer war, und er blickte hinauf zu der Flagge, die neben dem Nikolaus-Turm hing. Die rote Fahne zeigte das Wappen Russlands, den Doppeladler mit Brustschild, ein Symbol, das es bereits seit Hunderten von Jahren gab und das man einem vergessenen Königreich abgenommen und sich zu eigen gemacht hatte. Ein weiterer sichtbarer Beweis für den weit reichenden Einfluss von Sofia Palaiologa und ihre byzantinische Herkunft. Der Doppeladler war aber nicht nur das Symbol Byzanz’ gewesen, sondern auch das seines Vorgängers in der Weltherrschaft, des Römischen Imperiums.
Simon schaute über Moskau hinweg und war dankbar, dass Sommer war, denn im Sommer war das Wetter hier ganz anders als während der harschen Winter, die wie Gottes Strafe dafür wirkten, dass die Sowjetunion ihn zugunsten ihrer atheistischen Ideologien fünfundsiebzig Jahre lang verleugnet hatte.
Als er auf den Kreml blickte, waren seine Gedanken und Ängste bei Genevieve. Zu wissen, dass sie dort gefangen gehalten wurde, versetzte ihn in Rage; er gelobte, dass er ihre Peiniger ohne Rücksicht auf die Zehn Gebote bezahlen lassen würde.
Mehr als vier Monate waren vergangen, seit Simon sie zuletzt gesehen hatte, nachdem sie durch seine Hand »gestorben« war. Er saß im hintersten Winkel der Skihütte in den italienischen Dolomiten, und sein Kaffee wurde kalt, während er Genevieves Bitte auf sich wirken ließ.
»Es wird Zeit, dass ich verschwinde«, sagte Genevieve mit einem schmerzlichen Lächeln. »Mein Sohn wird nicht ruhen, bis er die Wahrheit erfährt und besitzt, was ich versteckt habe.«
Simon starrte sie weiterhin an. Er versucht zu verdauen, dass seine Freundin ihn gebeten hatte, sie zu »töten« und eine Lawine in Bewegung zu setzen, um den Eindruck zu erwecken, sie sei darin umgekommen. Er konnte nicht nachvollziehen, wie verraten sie sich fühlte, nachdem ihr Sohn ihr Leben zerstört hatte, ihre Finanzen, ihr Waisenhaus und ihr Vertrauen.
Simon und Genevieve kannten einander länger, als er sich erinnern konnte. Sie und Simons Mutter waren enge Freundinnen gewesen. Als Simons Vater sich auf brutale Weise an seiner Mutter verging, als sein Vater ihr satanische Symbole in die Haut ritzte und sie tagelang vergewaltigte, da war es Genevieve gewesen, die seiner Mutter zu Hilfe eilte und sie tröstete, während Simon sich aufmachte, dem Wahnsinnigen nachzujagen und ihn aufzuspüren. Es war Genevieve, die sich danach weiter um Simons Mutter kümmerte, als Simon wegen Vatermord ins Gefängnis gesteckt wurde. Genevieve sorgte für Simons Mutter, als diese nur noch ihre alte Schwesterntracht, die Nonnengewänder, tragen wollte und allmählich den Verstand verlor. Und es war Genevieve, die für Simon da war, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde.
»Wohin wirst du gehen?«, fragte er schließlich.
»Das weiß ich noch nicht, aber mach dir darüber keine Sorgen, für mich wird gesorgt sein.«
Simon wusste, dass das stimmte. Niemand kannte Genevieve Zivera besser als er. Er kannte ihre Geschichte, ihre Sorgen und Freuden, ihre Bedürfnisse, Ängste und Geheimnisse.
Simon wusste um die historische Bedeutung der verlorenen byzantinischen Liberia, um ihre Schriften und Schätze. Er wusste, dass die Kirche seit über fünfhundert Jahren danach suchte – und er hatte immer gewusst, dass Genevieve auf diesem Gebiet eine Expertin war. Sie hatte im Laufe seines Lebens Stunden damit zugebracht, ihm Geschichten über Religion zu erzählen, Geschichten über das Leben, Geschichten über Mysterien und Geheimnisse.
Und Simon hatte Genevieve gelauscht und geschworen, niemals irgendjemandem etwas davon preiszugeben, es sei denn, Genevieve selbst bat ihn darum. Er stand für immer in ihrer Schuld für das, was sie für seine Mutter getan hatte. Er würde ihr niemals eine Bitte abschlagen, egal wie groß oder klein sie war.
Genevieve nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, stützte die Unterarme auf die Tischplatte und beugte sich vor. »Bevor ich verschwinde, muss ich dir ein paar Dinge beichten, die ich länger für mich behalten habe, als ich es hätte tun sollen. Das erste betrifft deine Mutter. Das, was mit ihr geschehen ist, als du im Gefängnis warst, und welche Richtung ihr Leben damals nahm. Was ich dir jetzt sage, erzähle ich dir mit tiefstem Bedauern. Ich breche damit ein Versprechen, das ich deiner Mutter vor Jahren gegeben habe.« Sie hielt inne und sammelte
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