Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
zu essen. Zweimal hatte Stephen einen Herzstillstand erlitten, war aber reanimiert worden.
Michael und Susan sprachen wenig und nur sehr selten, doch waren ihre Worte respektvoll und voller Liebe. Beide hatten die schreckliche Erfahrung durchlebt, ihre Ehepartner verloren zu haben. Jetzt trauerten sie miteinander und beteten gemeinsam, dass der Mann, der vor ihnen in dem Bett lag und um dessen Rettung sie so gekämpft hatten, doch noch überleben würde.
Es war drei Uhr morgens, als Michael und Susan einnickten.
Michael träumte vom Kreml, von den Mauern über und unter der Erde, von Reisen, die er auf sich genommen hatte, nur um ohne jede Hoffnung heimzukehren. Er träumte von seinen Adoptiveltern, den St. Pierres, und er träumte von Mary.
Es war Monate her, seit er sie zuletzt in seinen Träumen gesehen hatte. Bis dahin war ihr lächelndes Gesicht morgens stets seine letzte Erinnerung gewesen, die ihm dann durch den Tag geholfen hatte. Endlich war sie zurückgekehrt, schaute ihn an mit ihren smaragdgrünen Augen, und er erinnerte sich an das Leben, das sie miteinander geteilt hatten.
Sie waren alle in seinem Haus, im großen Wohnzimmer. Helles Sonnenlicht, heller, als er es je gesehen hatte, strömte durch die Fenster ins Innere.
Und dann war Stephen plötzlich bei ihnen, als würden sie einander gerade zum ersten Mal begegnen. Keiner sprach, aber es bedurfte auch keiner Worte. Sie waren Michaels Familie. Jeder trug auf seine ureigene Weise zu seinem Leben bei und … er hatte sie alle verloren.
Aus einer Ecke trat Genevieve. Sie schaute Michael einfach nur an, und für einen kurzen Moment lächelte sie. Es war ein liebevolles und respektvolles Lächeln voller Anerkennung. Ein stilles Anerkennen von Taten und Opfern. Dann verschwand sie, löste sich auf in einen Lichtstrahl, verschwand aus dem Raum und aus seinem Traum. Dann verließen ihn auch die anderen – die St. Pierres, Mary und schließlich Stephen, und wieder einmal war Michael ganz allein, und die Welt um ihn her wurde dunkel.
Michael wachte auf und hob seinen plötzlich steifen Nacken aus der unbequemen Lage auf dem Stuhl. Er brauchte einen Moment, bis auch sein Verstand aufgewacht war; dann schaute er sich im Zimmer um und orientierte sich. Er blickte auf Susan, die immer noch schlief, auf die weißen Krankenhauswände und die Dunkelheit draußen vor dem Fenster, die von den ersten Strahlen der Morgensonne durchstochen wurde.
Und dann fiel sein Blick auf Stephen, der ruhig dalag und ihn anschaute, als würden sie beide das Gleiche denken, als hätten sie beide den gleichen Traum gehabt. Dies war der Augenblick, in dem Michael wusste, dass Stephen, sein Vater, überleben würde.
73.
S ergei Raechen rannte durch den Garten seines Hauses in Alexandria, Virginia. Seine Großmutter, Vera Bronshenko, beobachtete, wie er auf das Gerüst kletterte und die Rutsche hinuntersauste. Ihr Herz zersprang fast vor Freude. Es gab keine Erklärung für die Erkrankung des Jungen – und es gab erst recht keine Erklärung dafür, dass er plötzlich geheilt war. Das Einzige, woran Vera sich erinnern konnte, war, dass er als ein Kind schlafen gegangen war, das im Sterben lag, und dass er im Schlaf nach seinem Vater gerufen hatte … und dass er am nächsten Morgen aufgewacht war und seiner Großmutter ganz aufgeregt und bildhaft erzählt hatte, er habe von einem wunderschönen Ort geträumt.
»Papa war da, zusammen mit Mama«, sagte Sergei. »Und eine wunderschöne Dame war da, die mich immerzu angelächelt hat.«
Vera lauschte ihrem Enkelsohn. Die Freude, in seine hellen, klugen Augen zu blicken, überwältigte sie.
»Papa hat gesagt, jetzt ist alles in Ordnung«, sagte der Junge, als er die Rutsche hinuntersauste, ganz in sein Spiel vertieft.
Und als Vera Bronshenko ihren Enkelsohn anschaute, wusste sie, dass er recht hatte.
Alles würde in Ordnung sein.
Julian Zivera wurde vor der Welt bloßgestellt. Das charismatische Gesicht, das die religiöse Welt gekannt hatte, wurde endlich als die Fassade entlarvt, die es gewesen war. Die Cover sämtlicher Magazine und Zeitungen zeigten die grobkörnigen Bilder, auf denen zu sehen war, wie er seine Mutter folterte; auf denen die Leichen zu sehen waren, die überall in seiner Villa gelegen hatten. Da es keine offensichtliche Todesursache gab, nahm man an, dass es sich um einen Massenselbstmord gehandelt hatte. Es war eine nie enden wollende Flut von Schlagzeilen für die Titelseiten. Die Medien und die
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