Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
tiefer in die Krypta, wo man sie zur letzten Ruhe bettete. Die Krypta war so gestaltet, dass sie in Einzelgrüften aus Stein und Marmor mehr als tausend Verstorbene beherbergen konnte. Obwohl die Weinproduktion bereits vor vielen Jahren eingestellt worden war, wurde die Krypta nun wieder eifrig genutzt, seit Julian Zivera zum geistigen Führer von Gottes Wahrheit aufgestiegen war.
Während in den meisten Gräbern die Strenggläubigen vergangener Jahrhunderte ruhten – Mönche, Priester, Nonnen –, gab es Grüfte, die Verstorbene eines sehr viel jüngeren Jahrgangs enthielten: Feinde von Julian, die aus den verschiedensten Gründen beseitigt worden waren: von gescheiterten Attentaten bis hin zu unbefriedigendem Beischlaf.
Julian ließ es sich nicht nehmen, die neue Gruft – Nummer 799 – persönlich zu öffnen. Er nahm den Marmordeckel herunter und legte ihn zur Seite, wo er des zukünftigen Bewohners der Gruft harren würde. Dann suchte Julian sich einen Wein aus und entschied sich für einen 78er Romanée-Conti. Dieser Burgunder, den er auf einer Auktion in den USA erstanden hatte, passte vorzüglich zu einem amerikanischen Rechtsanwalt: Sobald Michael St. Pierre seine Aufgabe erfüllt hatte, würden alle, die daran beteiligt gewesen waren, entsorgt. So hatte Julian es arrangiert.
Und Stephen Kelley würde als Erster an der Reihe sein.
22.
M ichael stand in der Mitte des Roten Platzes, überwältigt von seiner Größe und Geschichte. Im Fernsehen hatte er ihn oft gesehen, jedes Jahr, wenn gezeigt worden war, wie die russische Armee die militärische Macht der Sowjetunion vor den Offiziellen auffuhr, die am Maifeiertag die Parade abnahmen. Diese Bilder hatten sich tief in sein Gedächtnis gegraben. Er erinnerte sich daran, als Kind das gewaltige Aufgebot an Panzern gesehen zu haben und die Zehntausende von Soldaten, die im Stechschritt an den Tribünen vorübermarschierten, um die Bedrohung zu dokumentieren, die sie darstellten, und ihre unbezwingbare Macht. Während des Kalten Krieges war die Gefahr einer möglichen Vernichtung durch einen Atomkrieg eine Realität gewesen, die bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 über der Welt geschwebt hatte wie das Schwert des Damokles.
Michael kannte auch die Basilius-Kathedrale – ein Symbol für Russland, wie der Eiffelturm für Frankreich, Big Ben für England und die Freiheitsstatue für die Vereinigten Staaten. Die Kathedrale sah aus, als gehöre sie in eine Märchenwelt mit ihrer Vielfalt an üppigen Farben, die sich in Blau-, Gelb-, Grün- und Rottönen über die vielen Kuppeln, Türme und Turmspitzen erstreckte. Die aus rotem Backstein erbaute Kathedrale bestand aus neun einzelnen Kirchen, die jeweils eine Zwiebelkuppel hatten; jede dieser Kuppeln unterschied sich in Aussehen und Farbgebung von den anderen, und doch fügten sie sich zusammen zu einer Einheit, wie sie sonst nirgendwo auf der Welt zu finden war. Aber wie bei vielen Dingen war auch hier die äußere Hülle großartiger als das, was sich darunter verbarg: In ihrem kleinen beengten Inneren zeigte die Kathedrale nichts von der Großartigkeit ihrer Fassade, und sie war nur selten zum Gottesdienst geöffnet.
Am meisten stach Michael ins Auge, dass jede Kuppel das gleiche Symbol krönte. In einem Land, in dem die Religion mehr als siebzig Jahre verboten gewesen war, hatten sich die Kreuze während der Ära der roten Gefahr wie Richter erhoben und ihre Schatten auf die Militärparaden geworfen.
Links von Michael stand das Warenhaus GUM, ein weitläufiges Einkaufsparadies mit einer Angebotspalette, die sich nicht mehr allzu sehr von der in amerikanischen Einkaufszentren unterschied, während sich zu seiner Rechten das Lenin-Mausoleum befand, dem man nicht mehr die Ehrenwache zubilligte, die dort jahrzehntelang gestanden hatte, um den Architekten der Russischen Revolution zu beschützen. Das Mausoleum aus rotem Granit hatte die Form einer in sich abgestuften Pyramide, deren Spitze eine Marmorplatte bildete, die von sechsunddreißig Säulen getragen wurde. Unmittelbar hinter dem Mausoleum befand sich die Nekropole an der Kreml-Mauer, ein Ehrenfriedhof, der nicht nur die mit Büsten geschmückten Gräber von Stalin, Breschnew und Andropow beherbergte, sondern auch die russischer Ikonen wie Juri Gagarin und Maxim Gorki.
Was Michael aber noch weit mehr als alles andere ins Auge fiel, war die Mauer hinter den Ehrengräbern. Sie war fast zwanzig Meter hoch, nahezu sechs Meter breit, erstreckte
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