Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Gesetzeshüter abgegeben.
Er war erstaunt über die gewaltigen Menschenmassen, die über die Brücke hinein ins Herz Russlands strömten. Der Kreml war während der letzten fünfzehn Jahre zu einer wahren Touristenattraktion geworden, nachdem er zuvor jahrzehntelang von nur wenigen Menschen aus dem Westen besucht worden war.
Der Mann war großgewachsen, und sein dunkles Haar war lang und fiel über den Kragen seines weißen Polohemdes. Angekommen war er am Vortag unter einem Pseudonym, das so sicher war, dass sie ihn beim Zoll gleich durchgewinkt hatten. Gleich nach seiner Ankunft hatte er sich drei Maschinenpistolen, sechs Pistolen sowie ausreichend Munition beschafft, um einen kleinen Krieg führen zu können. Außerdem Rauchbomben mit Fernzündung, sechs Stabbrandbomben und zehn Kilo Semtex. Den Kofferraum seines Mercedes hatte er nur noch mit Mühe schließen können.
Es tat ihm leid, den russischen Mafioso mittleren Alters getötet zu haben, der offenbar eine Art Wal-Mart für Waffen betrieben hatte, aber das hatte der Bursche sich selber eingebrockt. Nachdem er den vereinbarten Preis gezahlt hatte, versuchte der Russe, ihn zu erpressen und drohte, die Polizei zu rufen, wenn er nicht das Doppelte zahlte. Als der bärtige Mann sich weigerte, wollte der Russe seine Waffe ziehen, war aber bereits tot, bevor sich sein Finger dem Abzug auch nur hatte nähern können.
Und nun beobachtete der bärtige Mann, wie der kleine dicke Russe zusammen mit dem Amerikaner durch den Torbogen lief. Er wusste, wohin sie gingen, und was sie vorhatten. Und wenn es so weit war, würde er bereit sein, egal was es erforderte und wie viele Menschen dabei starben.
Er hatte zwei Dinge zu erledigen, und nichts konnte ihn aufhalten.
Susan saß auf dem Rücksitz eines Mercedes. Im Auto war es dermaßen verraucht, dass sie nicht nach draußen sehen konnte. Ihr gegenüber saß der Angreifer, der sie mit Waffengewalt in seinen Wagen gezwungen hatte. Er hatte kein Wort gesprochen, seit sie ihn zornig angeschrien hatte. Statt sich zu fürchten, war Susan von einem solchen Zorn erfüllt, dass sie den Mann, der vor ihr saß, verprügeln wollte. Er war nicht älter als zwanzig; seine Aknenarben waren noch frisch. Kälte lag in seinen jungen Augen. Für ihn war weder das Leben anderer noch seine eigenes Leben von Bedeutung. Susan fragte sich, ob er weiter in die Zukunft denken konnte als nur bis morgen. Russische Mafia, ging es ihr durch den Kopf, während sie den Mann musterte: nach hinten gestriegeltes blondes Haar, Sportjackett und auffälliger, klotziger Goldschmuck. Offenbar wollten alle diese Burschen aussehen wie ein Mafioso aus Brooklyn in der Disco-Ära.
»Man sucht nach mir«, sagte Susan.
Der Mann schwieg weiter, starrte nur in ihre versteinerte Miene.
»Das amerikanische Konsulat wird …«
Ein schrilles Läuten schnitt ihr das Wort ab. Der Mann zog ein Mobiltelefon aus der Jackentasche. »Oha«, sagte er, nickte dann nur und stieß Grunzlaute aus, mit denen er offenbar bestätigte, verstanden zu haben. Nach dreißig Sekunden war das Telefonat beendet.
Er klopfte auf die Trennwand und murmelte dem Fahrer irgendetwas in Russisch zu.
Susan sah ihn an. »Wohin bringen Sie mich?«
Wieder starrte er sie nur an.
»Ich will wissen, wohin wir fahren.«
Der junge Mann lächelte. »Jemand wünscht Sie zu sehen«, sagte er in unerwartet gutem Englisch.
»Wer?«, fragte Susan, erstaunt, dass er ihr endlich geantwortet hatte.
»Jemand im Kreml.«
Die Furcht, die Susan sich bisher so gekonnt vom Leib gehalten hatte, überkam sie wie eine Sturmflut.
23.
N ikolai Fetisow führte Michael durch den nur dreizehneinhalb Meter hohen, aber kunstvoll verzierten Kutafja-Turm auf der Westseite des Kremls und über eine Brücke, unter der sich einstmals das Flüsschen Neglinnaja dahingeschlängelt hatte, eher es in ein Rohr umgeleitet wurde, das man unter den Alexandergarten gelegt hatte. Sie gingen weiter durch den gewaltigen Dreifaltigkeitsturm, den höchsten der Kremltürme. Die Spitze des 80 Meter hohen Bauwerks, mit dessen Errichtung im Jahre 1495 begonnen worden war, bildete ein riesiger Stern, der von der prunkvollen Welt kündete, über die er wachte. Der Dreifaltigkeitsturm war der Haupteingang für sämtliche Besucher und ein perfektes Nadelöhr für den Sicherheitsdienst.
»Wohin gehen wir?«, fragte Michael.
»Jemand möchte Sie sehen«, antwortete Fetisow und rückte seine Brille zurecht. »Aber ich dachte mir, dass ich Ihnen auf
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