Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
keine Privilegien gab. Man gewährte ihm die luxuriösesten Unterkünfte, ein großzügiges Gehalt, einen Wagen und ständigen Zugriff auf lebensnotwendige Bedarfsgüter. Skowokow brauchte sich nicht für einen Laib Brot in eine Schlange zu stellen. Man stellte ihm Personal zur Verfügung, so viel er wollte, unbegrenzte finanzielle Mittel und unbegrenzten Zugang zu allem. Sogar der KGB tanzte nach seiner Pfeife. Wurde in Europa oder in den Vereinigten Staaten ein medizinischer Durchbruch erzielt, brauchte er das Komitee bloß darauf aufmerksam zu machen und war bald darauf im Besitz sämtlicher Forschungsunterlagen, sämtlichen Wissens und, sofern er es verlangte, Anweisungen aus erster Hand. Mehr als einmal hatte das KGB führende Wissenschaftler entführt, ihre Hirne angezapft und sie anschließend für den Rest ihres Lebens nach Sibirien verfrachtet. Skowokow war ein mächtiger Mann in einer mächtigen Nation, und das versetzte ihn in eine Art Rausch.
Es war an einem Sonntagabend vor achtunddreißig Jahren gewesen, als er in seinem Büro im Kongresspalast des Kremls gesessen hatte, vor sich einen Stapel streng geheimer Akten. Die Unterlagen und Diagramme, die Berichte aus erster Hand und die historischen Zeugnisse waren das Ergebnis von Recherchen zu einem einzigen Thema, zu einer Legende, die Wladimir seit seinem elften Lebensjahr faszinierte. Jetzt, da er unbegrenzten Zugriff auf aktenkundige historische Eintragungen hatte, schwelgte er förmlich in der fixen Idee seiner Kindheit: Die Liberia von Iwan dem Schrecklichen, jene geheimnisvolle Bibliothek, von der man annahm, dass sie irgendwo tief unter den Mauern des Kremls verborgen lag. Gefesselt las er, was über die Liberia spekuliert wurde, über die vielen Ausschachtungen, mit denen man nach ihr gesucht hatte, und über die Enttäuschung, die sich mit den Jahren eingestellt hatte, weil man immer noch nicht herausfinden konnte, wo sie sich befand.
Doch war da ein Dokument, das den jungen Arzt ganz besonders in seinen Bann zog: eine kurze Biografie von Dmitri Zhitnik, Mönch und enger Vertrauter des Zaren. Es warf Licht auf die Beantwortung der Frage, was Iwan den Schrecklichen bewogen hatte, die Liberia vor der Menschheit zu verstecken. Iwan suchte nach Rettung für seine Seele. Auf dem Totenbett, Zhitnik an seiner Seite, offenbarte er sein letztes Geheimnis. Er erzählte Dmitri Zhitnik, wo sich die sagenumwobene Liberia befand.
Der junge Wladimir Skowokow verbrachte seine Zeit mit dem Studium der Genetik, Biochemie und Medizin, während er sich in den Nächten mit historischen Forschungen befasste, mit Ausflügen durch die unterirdische Welt des Kremls und wilden Spekulationen bei der Suche nach der Bibliothek und ihren Schätzen und Geheimnissen. Es wurde sein Zeitvertreib – ein entspannendes Hobby nach den vielen Hürden, die er tagsüber zu bewältigen hatte.
Skowokow entstammte der sowjetischen Talentschmiede. Er war ein brillanter Kopf, dessen Potential man bereits im Alter von neun Jahren erkannt hatte. Man hatte seinen Scharfsinn gefördert, geschult und zu einem Intellekt geschliffen, der schärfer war als Toledostahl. Er war in der Lage, an einem Tag mehr wissenschaftliche Durchbrüche zu erzielen, als die meisten Forscher sich für ein ganzes Leben vornahmen. Er war der Stolz des alten Regimes und hatte der UdSSR mit seiner innovativen medizinischen Forschung und seinen Entdeckungen zu hohem Ansehen verholfen.
Doch seine Methoden wurden mit aller Macht geheim gehalten. Skowokows Ego war nicht zu kontrollieren. Er verfolgte seine Ziele mit an Wahnsinn grenzender Besessenheit, und dabei durfte ihm nichts und niemand in die Quere kommen. Unfähige Assistenten wurden in Sibirien entsorgt; Teams, die seinen kompromisslosen Ansprüchen nicht gerecht wurden, endeten als Versuchskaninchen für seine neuesten Theorien. Seine Forschungsmethoden wiesen Ähnlichkeiten mit denen von Mengele und Ishii auf. Er infizierte Testpersonen mit Bakterien und Viren und setzte sie Schmerzen aus, um Heilungsmöglichkeiten zu erproben. Doch sprachen seine Ergebnisse für sich, was zur Folge hatte, dass alle wegschauten.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks bekam er keine Subventionen mehr, sodass seine medizinischen Einrichtungen geschlossen wurden. Er musste mit ansehen, wie die Welt zerfiel, die er gekannt und die ihn so begeistert gefördert hatte. 1993 verließ er Moskau und ging in die Schweiz. Er wechselte von einer Universität zur anderen, hatte diverse
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