Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Brunnen zu ziehen? Und warum hatte er es getan?
» Warum hast du mich gerettet? «
Die grauen Augen schlossen sich einen Moment lang. Der Kentaur kämpfte um Kraft.
» Du musst leben « , keuchte er. » Weiß nicht, warum. Alles falsch. Alles falsch. «
» Was ist falsch? «
» Torgar weiß gar nichts. Wir alle wissen nichts. Wir hoffen … «
Er keuchte schmerzerfüllt.
» Sinn « , flüsterte er. » Vielleicht hat alles einen Sinn. Du lebst. Das muss etwas bedeuten. Ich habe dich singen gehört. Vielleicht von Neuem … «
Er verstummte, als ihm ein Schwall Blut aus dem Mund troff. Er sank tiefer auf dem Boden zusammen. Das Wasser, das in Pfützen auf den Steinen stand, färbte sich rot.
Una streckte sich nach dem Kentauren aus und ergriff seine Hand. Er hielt sie fest.
» Kann mich nicht erinnern « , sagte er. » Aber ich war einst stolz. Jetzt bin ich nichts. «
» Du bist mein Retter « , entgegnete Una. » Du hast mir das Leben gerettet. Das ist nicht nichts. Du kannst nie wieder nichts sein. Du bist jetzt … « , sie hielt einen Moment inne. » Du bist mein Freund. Du bist tapfer. Und selbstlos. «
Kanura hatte gesagt, Kentauren wären Kreaturen, die in ihrem Leben irgendetwas falsch gemacht hatten.
» Du hast alles richtig gemacht « , sagte sie ihm. » Wie heißt du? «
» Dauronas. « Er flüsterte nur noch. Dann krampfte sich die große Hand schmerzhaft um die Unas, die ihm noch näher kam und ihren Widerwillen gegen die fleckige Mischkreatur überwand. » Thronsaal « , wisperte er jetzt. » Nicht … «
» Was willst du mir sagen? « , fragte Una.
Inzwischen kämpfte er um jeden Atemzug.
» Anfang « , keuchte er. » Ende. «
Ein erneuter Blutschwall brach aus ihm hervor, und er sackte leblos in sich zusammen. Sein langes, struppiges Haar sog das Gemisch aus Blut und Wasser auf und wirkte wie Strähnen dunklen Seetangs.
Una zitterte.
» Dauronas « , murmelte sie. » Ruhe in Frieden. « Sie legte ganz vorsichtig ihre Hand an seine verschmierte Wange und strich zärtlich mit dem Daumen darüber. » Danke! «
» Tote Kentauren scheinst du mehr zu mögen als lebende Einhörner « , ertönte eine Stimme von der Tür. Dort lehnte Kanura. Wie lange er schon zugesehen hatte, wusste Una nicht. Er wirkte ein wenig säuerlich. » Läufst du mir jetzt wieder davon? «
Sie stand langsam auf, wusste nicht, was sie sagen sollte.
» Er hat mir das Leben gerettet! « , sagte sie schließlich. » Da war ein Uruschge. Der hat mich in den Brunnen gezogen. Ich wäre fast ertrunken. Dauronas hat mich befreit. «
Kanura nickte nur. Auch er hatte sie vor einem Uruschge gerettet. Und vor dem Absturz in einen Abgrund. Und vor der Willkür der Kentauren. Vielleicht war sie nicht ganz fair zu ihm gewesen. Er sah ziemlich angeschlagen aus.
» Es tut mir leid « , murmelte sie.
» Was?«
» Alles. Dass ich weggelaufen bin. Dass ich dir nicht vertraut habe. Ich hatte solche Angst. «
Er nickte. » Du hast Grund zur Angst. Hat der Kentaur dir gesagt , was hier vor sich geht? Wir sollten vergleichen, was wir erfahren haben. Aber nicht hier. Wenn dieser Brunnen den Uruschge bekannt ist, mag mehr als einer daraus hervorbrechen. Komm. «
Sie trat auf ihn zu, blieb dicht vor ihm stehen. Seine großen, braunen Augen sahen müde aus. Dann lächelte er plötzlich leicht.
Una hob ihre Hand, um ihn zu berühren. Sie war voller Blut, und er fing ihren Arm noch vor seinem Gesicht ab, betrachtete ihre Hand nachdenklich. Seine Augenbraue zuckte. Vielleicht wollte er nicht mit der gleichen Geste der Zuneigung bedacht werden wie ein Kentaur, wollte nicht den Abklatsch einer Zärtlichkeit, über die sie nicht einmal nachgedacht hatte.
» Wir sollten uns irgendwo verstecken. Pelzschrate und Kentauren sind in der Burg unterwegs. Nicht jeder von ihnen wird so selbstlos sein, sich für eine Menschenfrau zu opfern « , sagte er.
» Wird er jetzt als Einhorn wiedergeboren? « , fragte Una.
Kanura zuckte mit den Schultern.
» Wer weiß schon, welchen Zyklen das reine Leben unterworfen ist? Ich weiß, dass ihr Menschen an ein Himmelreich glaubt. Vielleicht kommt er ja dorthin? « Kanura hörte sich nicht an, als ob er das glaubte. Es klang eher, als mokiere er sich über das, was er für ihre Religion hielt.
Una erwiderte denn auch nichts darauf, wandte sich nur noch einmal um und betrachtete die tote Kreatur. Es war zutiefst beunruhigend, dass jemand für sie gestorben war, jemand, den sie nicht einmal gekannt hatte und
Weitere Kostenlose Bücher