Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
setzte zum Galopp an.
» Kanura! « , ertönte da eine Stimme hinter ihm.
Er fuhr erschrocken herum und stieg.
» Kanura! « , riefen nun zwei Stimmen.
Erst jetzt begriff er, wem die Stimmen gehörten: Perjanu, dem Ältesten der Schanchoyi, und seinem Vater. Der Ruf war Mahnung und Befehl, und Kanuras Freiheitsdrang sträubte sich angesichts der geballten Autorität. Einen Augenblick lang glaubte er, die beiden auch zu sehen, doch ihr Bild trug nicht so weit wie ihr gemeinsamer Wille. Es lag an seiner eigenen Vorstellungskraft, zu den Stimmen die dazugehörigen Bilder zu schaffen – und zu gehorchen.
Als er noch klein gewesen war, hatte er das automatisch getan, wenn sie ihn so gerufen hatten – durch die Weite Talunys’, nur mit der gesammelten Kraft ihres Geistes. Das vermochten sie. Perjanus Magie war erstaunlich, und auch Kanuras Eltern hatten ihre besonderen Fähigkeiten. Sie hatten sie schon lange nicht mehr bei ihm angewandt, denn er war erwachsen, und sein Umherstromern mochte Unmut hervorrufen, aber keine Unruhe oder Panik. Er mochte kritisiert werden, doch niemand pferchte ihn ein.
» Komm zurück! « , kam nun ein weiterer Befehl, erreichte ihn direkt im Klang der zwei körperlosen Stimmen. » Jetzt! Eile dich! «
Kanura rang mit sich. Eigentlich verlangte alles in ihm danach, sich dagegen zu wehren. Doch der Ruf war wie ein Sog. Und so gab er nach. Zu stark war das Bedürfnis, seine Schritte dorthin zu setzen, wohin es ihn rief. Nach Kerr-Dywwen, durch dessen weite Gefilde auch ein Fluss strömte. Auch dort konnte es Uruschge geben. Vielleicht griffen sie bereits den Hof an?
» Kanura! « Eryennis’ Stimme erklang wieder aus der Richtung des Sees. » Geh nicht zu ihnen! Kanura! Nein! Komm zu mir! «
Er sah sich noch einmal um, doch seine Freundin war nach wie vor nirgends zu sehen.
Nachdenken brachte ihn nicht weiter. Er leerte seinen Kopf, schob alle Gedanken von sich und konzentrierte sich auf das Nichts und das Alles, das gemeinsam immer die ultimative Wahrheit beinhaltete. Es war eine Mediationsübung zur Erlangung der Weisheit. Die Schanchoyi beherrschten sie gut. Kanura war eher schlecht darin, denn es bedurfte jahrzehntelanger Übung – sehr langweiliger Übung.
Schon lief er los, galoppierte und sprang. Seine Hufe setzten sich automatisch in Bewegung, noch bevor er eine bewusste Entscheidung getroffen hatte. Vielleicht war ihm die Meditationsübung ja unerwartet gelungen.
Oder er machte gerade wieder einen gigantischen Fehler. Wenn auch die Stimmen Perjanus und seines Vaters nur ein Täuschungsmanöver der Uruschge waren?
Fehler in einem Krieg konnten den Untergang bedeuten – für Eryennis, für Kanura, für alle Tyrrfholyn. Im Fehler machen, so hatten ihm die Gelehrten wiederholt versichert, war er gut. In Meditationsübungen nicht.
» Kanura! « Es klang verzweifelt.
Kapitel 8
Panik zu bekommen, nur weil es still war, wollte Una sich nicht erlauben. Neben allem anderen hatte sie diese einsame Fahrradtour auch deshalb unternommen, um zu beweisen, dass sie sehr gut alleine zurechtkam. Sie brauchte keine esoterisch-psychologisch ausgebildete Mutter mit wohlmeinenden Ratschlägen, keinen sorgenvollen, aber geschiedenen und mit einem neuen Leben versorgten Vater, der seine Erfahrungen als Gymnasiallehrer an den Problemen seiner Tochter schärfen wollte. Und schon gar keinen Jan, auf den kein Verlass und der ein verlogenes Arschloch war.
Sie brauchte nur sich.
Sie hatte auch nur sich. Eine Weile stand sie etwas verloren neben ihrem Fahrrad. Kein Lüftchen rührte sich. Das war für Irland eher untypisch, fast schon ein bisschen seltsam. Die Hitze ebenfalls. In Spanien hätte es kaum heißer sein können. Aber sie war nicht in Spanien.
Una hatte sich ihre feuerroten, wuscheligen Haare mit einem Haarband aus dem Gesicht gebunden und hinten mit einer Spange zusammengenommen, doch selbst dieses elastische Band schien irgendwie zu heiß für die Witterung zu sein und klebte ihr am Kopf.
In Irland holte man sich im Allgemeinen keine Sonnenbrände, doch Unas helle Haut würde vermutlich unter diesem Ausflug leiden. Fast meinte Una zu hören, wie die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangenknochen emporschossen und sich mit leisem Ploppen breitmachten. Rothaarig zu sein, war ein elendes Schicksal, das man zu tragen hatte. Braun wurden andere – Una wurde sprenkelig, ohne jede Hoffnung darauf, dass sich die Sommersprossen irgendwann zu einem flächendeckend nussbraunen Teint
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