Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Irene, nein! « , brüllte Esteron und sprang auf. » Ich lasse nicht zu, dass du etwas versprichst, von dem du nicht weißt, was es ist. Weder du noch ich haben genug Fantasie, uns vorzustellen, was sie dir aufbürden mag. Dein Tod ist nur eine der Möglichkeiten. Und bei Weitem nicht die schlimmste. «
» Abgemacht! « , sagte die Göttin, ungerührt von Esterons Einwurf. » Ich nehme dich beim Wort, Friedensfrau. Und jetzt sollten wir etwas schlafen. Im Morgengrauen geht es los. «
» Wir haben nicht zugestimmt « , zischte Esteron zornig.
» Aber ihr wollt eure Kinder zurück « , antwortete die Göttin. » Das wollt ihr doch? Also schlafe mit Irene, liebe sie, wie du es kannst, damit deine Bardin morgen furchtlos ist. Mein Held und ich werden hier auf der Couch … durch die Nacht reiten. Und du, Weiser der Tyrrfholyn, dir kann ich leider nur draußen meine Stute anbieten. Aber sie würde dich nicht mögen. Ich mag dich ja auch nicht. «
» Du magst niemanden, Macha. «
Kapitel 61
Das Messer fuhr dicht an Unas Augen entlang. Sie beugte sich so weit wie möglich zurück, doch hinter ihr war nur Wand. Mehrere Hände griffen nach ihr, hielten sie fest. Dann legte sich die flache Seite des Stahls an ihre Stirn. Der Schamane bewegte seine Lippen, doch kein Laut drang aus seiner Kehle. Una erwartete, seine Macht zu spüren, aber sie spürte gar nichts außer den grabschenden Händen. Vielleicht hatte sie nicht die Fähigkeit, Magie zu fühlen.
Oder es gab einfach keine. Das war wahrscheinlicher. Wenn dieser Typ wirklich ein toller Magier wäre, bräuchte er keine Hilfe, sie festzuhalten, und auch keine Stricke, die sie banden.
Also war er nur ein Irrer mit einer Waffe und eventuell einem mystisch-religiös motivierten Sendungsbewusstsein. Das machte Unas Situation allerdings nicht einen Deut besser. Die Art Mensch war in jeder Welt unberechenbar.
Ein weiteres Mal wollte sie sich aus dem Griff winden, trat mit den Füßen um sich. Gerne hätte sie geschrien, dass man sie sofort loslassen sollte, doch durch den Knebel brachte sie nicht mehr als ein Grunzen zustande. Das Messer konnte sie nun nicht mehr sehen. Irgendwie lag sie jetzt auf der Seite, jemand drückte ihr den Kopf nach unten.
» Los! « , sagte eine leise Stimme, und sofort begann ein Zischen. Una brauchte eine Sekunde, um dies als panische Aufforderung zum Schweigen zu interpretieren.
» Los! « , wiederholte die Stimme, diesmal noch leiser.
Mit einem Mal ließen die Hände Una los. Sie überlegte, ob es das war, was das » Los! « bedeutet hatte. Oder war es ein Befehl gewesen, sie endlich umzubringen?
» Los! « , erklang es nun ganz nahe ein drittes Mal.
Aus ihrer verdrehten Stellung konnte Una wenig sehen, sie versuchte sich aufzurichten, doch jede Bewegung war schwierig, so gefesselt wie sie war. Aus den Augenwinkeln konnte sie schließlich etwas erblicken. Das Bild war unscharf in der Düsternis, und ihr Gehirn arbeitete fieberhaft daran, das einzuordnen, was sie sah. Ein Affe? Affen sahen anders aus, doch die Größe mochte hinkommen, wenigstens für einen kleinen Affen. Etwa kniehoch.
Doch die Haltung war falsch, die Beine zu kurz. Eher wirkte diese kleine Gestalt wie etwas zwischen Murmeltier und Erdmännchen. Aufrecht stand das Tier da. Doch war es überhaupt ein Tier? Mit dem braunen Pelz und der Art, wie die kurzen Hinterläufe des Wesens angeordnet waren, machte es fast den Eindruck. Seine Vordertatzen sahen – von spitzen Krallen einmal abgesehen – allerdings sehr menschlich aus. Das waren eindeutig Hände mit fünf Fingern und richtigen menschlichen Daumen, alles ein wenig überdimensioniert für ein so kleines Wesen. Schaufelhände.
Was einem aber die kalten Schauer so richtig über den Rücken jagte, war der Kopf. Das Wesen hatte ein menschliches Gesicht. Seine Kopfhaare waren geflochten und mit Bändern zusammengebunden. Die Ohren waren mit Schmucksteinen gepierct. Die Nase war nicht affenähnlich zusammengequetscht, sondern stand markant in einem ganz normalen menschlichen Gesicht. Die Oberlippe zierte ein schmaler Schnurrbart, der an beiden Enden gezwirbelt war.
Der Gesichtsausdruck des Wesens, soweit Una den überhaupt zu deuten in der Lage war, wirkte besorgt. Es konnte natürlich auch sein, dass der Blick aus den großen schwarzen Augen, die manchmal in nachtaktivem Orangerot in der Düsternis aufblitzten, lediglich bedeutete, dass das Tier Hunger hatte.
Es war doch hoffentlich zu klein, um Menschen zu fressen?
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