Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
steinigte, nur weil man anderer Meinung war.
» Die Mardoryx ruhen. Aber ihr seid wach! Eure Vorfahren haben diese Burg doch gebaut, oder? Diese Welt gehört euch gerade so gut wie denen, die ihr Meister nennt. Ihr lebt hier. Ihr seid hier aktiv. Und Schweigen macht euch leise , aber nicht frei. «
Es war, als ob das Schweigen eine andere Qualität bekam. Beinahe war es lauernd geworden. Irgendeinen Knaller müsste sie noch bringen. Doch sie wusste viel zu wenig über ihre Zuhörer, um eine Ahnung davon zu haben, was das sein könnte. Vielleicht sollte man als Freiheitsheldin wenigstens wissen, worüber man sprach.
» Wo sind diese Meister denn jetzt? «
» Oben « , sagte der Erdworg.
» In der Burg? Wir haben keine gesehen. «
» Der Saal der Macht öffnet sich nur den Trägern des Horns « , flüsterte der Schamane. Er hielt sich dabei die Hände vor den Mund, und seine Gemeinde machte eine Bewegung, als bedecke sie mit den Händen die Ohren. Alle beugten sie wieder tief die Köpfe.
Der Saal der Macht. Das war vermutlich der Saal, der seitlich über dem Bardenkerker lag. Den Kanura hatte erreichen wollen. Una wusste nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Idee war. Sie wusste nicht einmal, ob er in seinem jetzigen Zustand in den Saal hineinkäme. Ohne Horn. Jedenfalls musste sie ihn finden und ihm berichten, was sie herausgefunden hatte. Wie von eisiger Hand gepackt presste sich ihr Herz zusammen. Kanura, der sein Horn für ihr Leben gegeben hatte. Wo war er? Sie wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Was, wenn er tot war? Dann musste sie den Rest ihres Lebens schweigend im Dunkeln mit diesen Freaks verbringen.
Sie merkte, dass sie ihre Ansprache zu lange unterbrochen hatte. Sie hatte den Faden verloren. Von Revolutionären, die einen zu neuen Ufern führen sollten, erwartete man nicht, dass sie mitten in ihrer Rede nicht weiterwussten und grübelnd vor sich hin starrten.
» Wir gehen jetzt hinauf! « , sagte sie entschlossen und fand, dass ihre Stimme zu hoch und zu nervös klang. Sie wollte nicht hier unten bleiben. Nicht in der beklemmenden Düsternis und nicht bei diesem hoffnungslosen Haufen.
Wüstes Flüstern und Gestikulieren hob an. Sie war zu weit gegangen. Zu voreilig gewesen. Sie hatte ihre Zuhörerschaft nicht überzeugt. Es war dumm gewesen zu erwarten, ein paar schöne Sätze über Freiheit würden das eingebläute Denken von Jahrhunderten auf einen Schlag ändern. Überlieferte Überzeugungen, von Generation zu Generation weitergegeben, hielten auch in ihrer Welt Menschen in ihren eigenen Seelenkerkern gefangen. Wahrscheinlich hatten die Menschen überall die Fähigkeit, etwas gänzlich Beschissenes gegen jede Logik gut zu finden, nur damit man gemeinsam irgendwas gut finden konnte. Danach brauchte man dann nur noch einen Außenfeind, der nicht in die Gruppe passte, dann konnte man seinen Frust auf den abladen und sich dabei so richtig gut und heilig fühlen.
Und gerade war sie dieser Feind von außen. Sie verstand mit einem Mal, dass sie das gesamte Weltbild dieser Menschen angriff. Was, wenn die trügerische Sicherheit in Dunkelheit und Schweigen das Einzige war, das diese Menschen zusammenhielt? Unas Meinung wäre nicht nur unerwünscht, sondern ketzerisch.
Sie versuchte, zuversichtlich in die im Schatten liegenden Gesichter zu blicken. Nur jetzt keine Angst zeigen. Menschen waren prima, aber ein Mob war ein Raubtier. Der Boden, auf dem diese Menschen ihr Leben aufgebaut hatten, mochte nichts taugen, doch wenn sie ihn ihnen unter den Füßen wegzog, würden die sich das nicht gefallen lassen.
Sie war hier eine Ketzerin. Und was taten Menschen mit Ketzern? Sie brachten sie um. Inquisition, Hexenverfolgung, Fatwa. Was nicht ins Dogma passte, wurde ausgelöscht.
Sie musterte die Menge um sich herum mit neuem Unbehagen. Die Menschen bewegten sich auf sie zu. Der Schamane gestikulierte entschieden und würdevoll. Vermutlich verurteilte er sie gerade zum Tode.
Wie viele waren hier versammelt? Una konnte es nicht sehen; die Schatten verloren sich in der Dunkelheit. Sie war allein gegen ein ganzes Volk, mochte es auch noch so klein und verhungert sein. Gegen diese Übermacht würde sie keine Chance haben.
Sie spürte förmlich, wie der Schamane wieder die Oberhand gewann. Er hatte seine Schweigeliturgie auf seiner Seite, eingeschliffene Rituale, festgesetzt in den Köpfen, viel mächtiger als ein Appell an selbstständiges Denken. Sie verstand seine Gebärdensprache nicht und hatte
Weitere Kostenlose Bücher