Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
dieser Regung nicht nachgeben. Er war hier. Und – da war er sich sicher – irgendwann einmal hatte er das Recht gehabt, in diesem Raum zu sein.
Bedächtig setzte er einen Huf nach dem anderen, trat durch die Flügeltüren in das Glitzerlicht der bunten Steine. Langsam umrundete er die gewaltige Ansammlung an Leibern. Seine Hufe klangen auf den Platten des Bodenmosaiks. Jeder Stein war anders, jeder Ton neu. Fast hörten sich seine Schritte an wie eine Melodie, doch er konnte keine Struktur darin erkennen. Kentauren waren nicht musikalisch.
Der schwere Körper, den er neben sich herschleppte, belastete ihn nur unwesentlich. Manchmal verhakten sich die Arme des Keinhorns an den toten Leibern im äußeren Kreis. Torgar hielt sich nicht lange damit auf. Er zerrte seine Beute einfach weiter über die Gerippe hinweg und riss an dem Bein, wenn sich etwa die langen, hellen Haare irgendwo verfingen.
Ganz unwillkürlich achtete er allerdings darauf, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Er hatte keine Lust, der Gesamtheit erwachender Mardoryx gegenüberzustehen.
Hufe auf Stein waren jedoch nicht leise. Jeden Moment glaubte er, dass nun doch einer der Schlafenden aufschrecken würde, erst einer, dann immer mehr. Sie würden aus ihrem Zauberschlaf erwachen, und er stünde dann mitten unter ihnen, ein Mischwesen ohne Horn auf der Stirn und ohne Macht. Die Mardoryx, so hieß es, verabscheuten Machtlosigkeit ebenso, wie sie Gewalt zelebrierten.
Doch er war nicht länger hornlos, erinnerte er sich und umklammerte die Klinge in seiner Hand fester. Und dies war kein normaler Schlaf. Torgar wusste nicht, seit wann die Gemeinschaft von Hornträgern hier schon ruhte, doch es musste schon lange sein.
Er zischte frustriert. Er hatte die andere Seite des Kreises erreicht. Hier führte ein schmaler Pfad in die Mitte, auf dem man nicht über allzu viele Leiber steigen musste. Er starrte jene Mitte an, die so offensichtlich das Zentrum von allem war, was hier geschah. Er war sich sicher, dass es dort etwas zu erkennen gab, wenn ihm nur der Sinn dazu gegeben wäre. Doch er fühlte sich gleichermaßen blind und taub, obgleich er sah und zumindest den Widerhall seiner eigenen Schritte hörte.
» Das Horn! « , erklang IHR Befehl in seinem Kopf. Fast hatte er SIE vergessen. SIE sagte ihm nicht, was er genau machen sollte, dennoch war es ihm klar. Er sollte in die Mitte gehen und das Horn auf den Stein legen, wie eine Opfergabe auf einen Altar.
Doch es war jetzt sein Horn. Er hätte ohne es nicht einmal hierher gelangen können. Und es war keineswegs gesagt, dass er hier je wieder herauskommen würde, wenn er es nicht mehr besaß.
Er sollte gehen. Doch der Stein in der Mitte zog ihn wie an Fäden. Vorsichtig setzte er einen Huf nach dem anderen auf dem schmalen Pfad zwischen den reglosen Leibern. Seine Beine und Hufe berührten die Schlafenden, wenn er zu nahe an ihnen vorbeikam. Die schlaffen Arme des Keinhorns streiften die Ruhenden.
» Das Horn « , sagte die Stimme erneut.
Nun stand er vor der steinernen Erhöhung, die einem Menschen fast bis an die Hüfte reichen würde. Ein Schauer lief ihm über den muskelbepackten Körper. Er trat nervös von einem Huf auf den anderen.
Er mochte nicht der Magie kundig sein, doch Macht konnte er spüren. Sie bog das Sein. Die Mardoryx hatten etwas mit ihrem Tun bezweckt. Sie hatten sich zusammengeschlossen, um hier etwas zu schaffen. Was konnte es sein? Was war ihnen wichtig?
Macht. Macht war ihnen wichtig. Vielleicht hatten sie die Anstrengung unterschätzt. Oder es war etwas schiefgegangen. Oder es dauerte einfach zu lange?
Vielleicht hatten sie auch nur darauf gewartet, dass sich etwas an den Parametern ihrer Welt änderte, um zu erwachen. Vielleicht waren sie in einem Vorgang stecken geblieben, bei dem es des Eingreifens eines Verbündeten bedurfte, damit sich etwas änderte. Dieser war dann wohl nie gekommen.
War Torgar nun dieser Verbündete? Er stand am Mittelpunkt des Bannes, und vielleicht war es nicht mehr wichtig, ob er wusste, was er tat. Er hatte die Ereigniskette bereits in Gang gesetzt. Er blickte auf die schwirrende Luft über dem Stein. Nichts stimmte in diesem Raum. Eben war es Nacht geworden. Nun sah er die ersten Boten des Morgens durch die Fenster dringen. So schnell konnte eine Nacht nicht enden.
Was wollte SIE mit seinem Horn? Er kam zu dem Schluss, dass SIE es aus dem gleichen Grund wollte wie er: damit SIE es hatte und kein anderer. Seine Hand zitterte. Es
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