Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Rückschlag. Die Kraft, die Enygme brauchte, um so viele Uruschge vom Morden abzuhalten, konnte sie nicht lange aufrechterhalten. Es war, als würde man einen Fluss am Fließen hindern wollen. Die Fürstin würde an dem Versuch zugrunde gehen und es dennoch wagen, aus fehlgeleitetem Altruismus, immer in der Hoffnung, die Ihren zu schützen. So wurde Stärke zur Schwäche.
Sie waren stets schwach gewesen, die aus dem Süden. Sie hatten Gesänge genossen, anstatt sie ausnutzen, in Worten gebadet, statt in Blut, und Macht gehütet, statt sie zu gebrauchen. Doch jetzt würde sich das ändern. Weil SIE es wollte. Und weil es im Süden Unzufriedene gab, deren Träumen SIE Nahrung gab.
So viele Träume. So viel Nahrung.
Wo kam nur dieser Rhythmus her? Was störte IHRE Kreise? Fast schon bedurfte es einer Anstrengung, dass SIE sich selbst als Einheit spürte und nicht als eine, die Viele war. Seit SIE geworden war, was SIE war, war das nicht mehr geschehen. In IHR war all das zusammengefasst, was man im Wunsch zu siegen, ausgesandt hatte. SIE war erstanden und erblüht aus diesem Wunsch, kreiert durch das Wollen derjenigen, die wussten, wozu man Macht gebrauchte. Jetzt existierte SIE in IHRER eigenen Machtfülle und verfolgte IHRE eigenen Pläne.
Doch nun wurde SIE von einem Lied gestört, dessen Melodie SIE noch nicht einmal hören konnte. War es die kleine Bardin? War die immer noch nicht tot? Warum nicht? Wo waren die hirnlosen Hornlosen, wenn man sie brauchte? Und wo waren die angstzerfressenen Erdkriecher, die vor lauter Panik alles eliminieren würden, das mehr Lärm machte als ein Wurm im Matsch.
SIE versuchte, lauter zu spielen, griff gewaltsam in die Saiten. Der Berg wummerte zu IHRER Musik.
Doch ganz leise ertönte im Hintergrund immer noch dieser störende Rhythmus: Diddeldie-diddeldie-diddeldie-diddeldie.
Kapitel 74
Irene wusste nicht mehr, wie viele Jigs sie schon gespielt hatte. Der Sechsachteltakt hatte sich in ihrem Gehirn verselbständigt. Jigs waren verdammt noch mal fröhlich. Es waren hübsche, schnelle Tänze. Riverdance hatte sie populär gemacht, doch lange bevor diese Show so erfolgreich gewesen war, hatte Irene schon Jigs und Reels gespielt, in irischen Pubs zusammen mit einheimischen Musikern. Sie wusste nicht, wie viele sie konnte, doch es waren bestimmt Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte.
Sie spielte. Einen nach dem anderen spielte sie, jeden dreimal, und erinnerte sich daran, wie sie Una die ersten irischen Lieder beigebracht hatte, als diese noch ganz klein gewesen war. Ihre ungeheure Musikalität war damals schon deutlich zutage getreten.
» Nicht aufhören! « , flüsterte Esteron und blickte auf den schwarzen Höhlenteich. » Spiel weiter! «
Irene sehnte sich nach seiner Berührung, doch er fasste sie nicht an, ließ sie nur spielen. Hatte er sich verändert? Wenn das überhaupt möglich war, wirkte er im Moment noch größer und kräftiger, mächtiger. Sein langes, schwarzes Haar schimmerte in dem seltsamen Stalagnatenlicht. Seine Saphiraugen leuchteten. Auch Perjanu schien auf seine bescheidene Weise beeindruckender. Sie strahlten eine Überlegenheit aus, die Irene aus unerfindlichen Gründen nicht als störend empfand – vielleicht weil sie sie anerkannte, was sie sonst bei allzu selbstbewussten Männern nie tat. Diese Männer waren, was sie waren, und nicht, was sie vorgaben zu sein.
Macha bedachte die Einhörner mit einem giftigen Blick. Irene betrachtete die Göttin misstrauisch – und spielte weiter. Una war aus dem Bild verschwunden, als das Wasser sich erneut kräuselte. Fast hätte Irene aufgeschrien, als sie ihre Tochter nicht mehr sehen konnte. Geblieben war nur die Gewissheit, dass Una noch lebte; dass sie allein war, wo sie nicht allein sein sollte; dass sie verfolgt wurde. Dass sie vielleicht sterben würde, wenn die Gruppe Menschen, die ihr hinterherschlich, sie erreicht hatte.
» Wo ist das? « , fragte Irene, ohne mit der Musik aufzuhören. Sie spielte etwas Leichtes, Kesh Jig. Da konnte man nebenbei vermutlich sogar reden. Jeder Depp konnte die Kesh Jig. Die-diddldie, die-diddldie …
» Ich weiß es nicht « , sagte Esteron. » Ich kenne das Gebäude nicht. Ich weiß nicht einmal, in welcher Welt es sich befindet, in meiner oder deiner. «
» Deiner, Fürstchen. Diese Information ist mein Geschenk an dich. Mein einziges « , sagte Macha und grinste ihn zynisch an. » Du kennst deine eigene Welt nicht. Und da willst du ihr Herrscher sein? «
» Ich bin
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