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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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musste jetzt singen.
    Sie kannte viele Lieder. Hunderte. Alte Lieder, neue Lieder, Rockballaden, irische Balladen, sogar ein paar Arien. Warum fiel ihr jetzt nichts ein? Und wie sollte man singen, wenn einem die Tränen über die Wangen liefen und Angst und Trauer einem den Hals zuschnürten?
    Sie versuchte, tief Luft zu holen, doch auch das schien unmöglich. Ihr Atem zitterte mit ihrem ganzen Körper, und ihr Magen hatte sich in Knoten gelegt.
    » Yesterday « , begann sie ziemlich zittrig zu singen, » all my troubles were so far away … «
    Ganz falsch. Hier ging es nicht um ein bisschen Liebeskummer. Hier ging es um den Tod, der ihnen unausweichlich bevorstand. Sie musste etwas Eigenes finden, etwas das noch nicht da gewesen war. Und niemand würde ihr Zeit lassen, darüber nachzudenken. Wie gut konnte man sein, wenn man spontan war? Wie albern waren Gefühle, wenn sie unredigiert aus einem herausschallten? Wie blöd war es, sich darüber Gedanken zu machen?
    Sie summte einen Ton und ließ ihn wachsen. Er vibrierte in ihr und aus ihr heraus. Dann sang sie:
    » Kanura, Prinz der Tyrrfholyn,
    sag mir, so sag mir, was sollen
    wir tun, bei jenen die ruh’n?
    Leicht sei dein Schlaf, Fürstensohn!
    Feinde um uns dürsten schon
    nach deinem, nach meinem Blute.
    Erwache, der eben noch ruhte! «
    Schlaflieder kannte sie. Wecklieder waren ihr unbekannt. Und dieses klang nicht eben munter. Die Melodie hatte sich aus ihr erhoben und schwang wie von selbst, gab den Worten, die so plötzlich aus ihr hervorbrachen, Leben ein.
    Sie hatte die Spannung in der Luft über dem Steinaltar wahrgenommen, noch ehe sie Kanura erreicht hatte, sie aber nicht einzuordnen gewusst. Nun blickte sie hoch in die flirrende Luft. In der fernen Saaldecke schien eine Lücke zu sein, direkt über ihr. Ein schwarzes Loch, vielleicht kein kosmisches, aber doch etwas von ungeheurer Energie, das nicht fassbar war und die Realität verwarf. Eine Kluft im Gefüge des Seins.
    Una begann ihr Lied von Neuem. Wie nebenbei bemerkte sie, dass die beiden Kämpfenden innehielten und zu ihr sahen.
    Sie lenkte ihren Blick nicht von Kanuras Gesicht, fixierte ihn weiter, ohne ihn je aus den Augen oder dem Sinn zu lassen. Ihre eine Hand lag auf seiner Brust, die andere an seiner Schläfe. Sie spürte, dass er nur mit Schwierigkeiten Luft bekam. Sie konzentrierte sich auf seine Atmung, sang in sie hinein, drückte jede Note, jede Silbe aus ihrem Willen zu heilen in seine Macht, dies zu tun.
    Aus den Augenwinkeln sah sie die Feinde den Weg durch die Leiber nehmen. Sie hatten es nun eilig, zogen eine Spur von Blut hinter sich her, grau und rot und mischbraun. Ihr Unwillen war zu spüren wie nahendes Feuer. Sie würden Unas Lied unterbrechen, indem sie ihr das Leben nahmen. Eine tote Bardin war eine stumme Bardin.
    Die Welt um sie herum schien sich zu verdichten, als ob man etwas kochte, das plötzlich zu Brei stockte. Ohne zu singen aufzuhören, spähte Una um sich. Die Bewegungen der Feinde waren langsamer geworden, erinnerten an Zeitlupenaufnahmen. Sie konnte Kanuras Hornklinge im Bandelier des Kentauren sehen. Wenn sie nur drankäme! Doch er würde noch viel näher kommen müssen, damit sie sie zu fassen bekam. Kampflos würde er ihr die Waffe bestimmt nicht überlassen.
    Bewegte sich da etwas im Rund der starren Leiber, die um sie herumlagen? Hatte einer davon gezuckt? Oder hatte sie sich das eingebildet?
    Sie sang einem Einhorn einen Heilgesang. Hier gab es viele Einhörner. Zu viele. Sie intonierte einen Break:
    » Kanura, nur dir
    sing ich hier.
    Nur dir, Kanura, nur dir! «
    Nützte das was? Was, wenn nicht? Was, wenn sie die Meister weckte?
    Zähne schnappten nach ihr. Sie schrie auf und wich instinktiv aus. So viele spitze, lange Zähne. So nah.
    Der Pelzschrat fiel rückwärts, hatte sich in seinem offensichtlich geschwächten Zustand zu viel zugemutet, gleichzeitig auf die Plattform zu springen und zuzuschnappen. Das Maul verfehlte Unas Arm um Millimeter. Das nächste Mal würde er ihr den Arm abbeißen. Sein Maul war so breit, dass er ihren ganzen Arm quer verspeisen konnte, ohne sich den Kiefer zu verrenken. Falls er so was wie einen Kiefer hatte.
    Sie versuchte, Kanura weiter vom Rand des Steins wegzuziehen. Doch die Plattform war nicht allzu groß und bot nicht genug Fläche, um sich darauf vor einem Angriff zu schützen. Präsentierteller, fuhr ihr durch den Kopf. Kanura und sie waren auf dem Opferstein angerichtet.
    » Wach auf! « , flüsterte sie

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