Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
zu kommen. Ihr Rucksack war ihr so schwer.
Endlich sah sie nun deutlich eine Art Pfad durch den Berg von Einhornleibern. Diesen Pfad musste sie erreichen, um in die Mitte zu kommen. Zu Kanura. Sie hatte allerdings den großen Kreis noch nicht ganz umrundet. Wenn sie jetzt losrannte …
Sie war von dem Pfad genauso weit entfernt, wie auf der anderen Seite die Feinde. Selbst wenn es ihr gelang, vor ihnen auf den Weg zum Opferstein zu gelangen, so hätte sie sie dann doch nur hinter sich, wenn die Wesen ihr nachkamen. Ein Zurück gab es nicht.
Ganz kurz dachte sie darüber nach, in die andere Richtung zu flüchten, aus dem gigantischen und gruseligen Saal hinaus, die Treppe hinunter, um sich den Menschen anzuschließen und um Aufnahme zu bitten.
Und um Rettung. Doch es gab keine Rettung.
Von der anderen Seite bewegten sich die beiden Feinde auf den Pfad zu. Sie waren allerdings immer noch damit beschäftigt, sich gegenseitig zu ermorden. Das hielt sie auf. Der runde Schrat verspritzte graues Blut, das im Licht der absonderlichen Wandsterne glitzerte.
So viel Blut. Es lief über den Boden. Una konnte nicht sehen, ob irgendwelche lebenswichtigen Körperteile verletzt waren, denn sie wusste nicht, welche das sein mochten. Sie nahm nur wahr, dass das Wesen gelegentlich einen oder mehrere Arme ausbildete und auf einer nicht wahrnehmbaren Anzahl kurzer Füße lief, die es über den Boden schoben wie eine rasende Raupe.
Der Kentaur lahmte. Auch er hinterließ eine Blutspur. Sein menschlicher Oberkörper war ebenfalls blutverschmiert. Sie hatten einander heftig zugesetzt, die beiden Kontrahenten, doch Una fühlte kein Mitleid. Nicht einmal Genugtuung. Nur Angst.
Sie rannte los. Sie stob auf den schmalen Pfad zu, um Kanura zu erreichen.
Sie schoss beinahe über das Ziel hinaus, als sie mit zu viel Schwung abzubiegen versuchte und ins Schlittern geriet. Der Pfad zwischen den ineinander verschlungenen Einhornleibern war schmal. Sie berührte die daliegenden Wesen mit dem Fuß, und ihr graute dabei. Sie fand die Toten so schrecklich wie die, die vielleicht noch lebten.
Die Meister ruhen. Nicht wecken, hatte der Erdworg gesagt. Nicht wecken, wiederholte sich der Satz in ihren panischen Gedanken. Bloß nicht wecken.
Zischen und gedämpfte Aufschreie ganz nah hinter ihr deuteten ihr an, dass die beiden Kämpfenden es immer noch nicht aufgegeben hatten, sich gegenseitig umzubringen, bevor sie sich um sie kümmern wollten. Beide, das fühlte Una deutlich, hatten genau das vor: den frechen Menschen fangen. Früher oder später würden sie das auch.
Nun hatte Una die Steinplattform erklommen und kroch auf den Knien zu Kanura. Der Fels war schartig und scharfkantig. Und ihre Knie waren längst lädiert. Doch sie spürte es kaum. Sie legte die Hand an sein Gesicht. Es war blau geschlagen und geschwollen. Sein ganzer Oberkörper war blau und lila und schwarz von Hämatomen. Oder waren das Leichenflecken? Wirre Bilder aus CSI -Folgen schossen ihr durch den Kopf. Woran erkannte man, dass jemand tot war?
Seine Haut war warm. An manchen Stellen war sie heiß und entzündet. Una legte ihm vorsichtig die Hand auf die Brust und spürte einen schwachen Herzschlag.
» Kanura! « , flüsterte sie und merkte, dass ihre Tränen auf seinen geschundenen Körper fielen. Er erwachte nicht, lag einfach da. Sie wusste nicht weiter. Sie hatte ihn erreichen wollen. Sie hatte ihn erreicht. Und nun?
Sie strich ihm über die Stirn, ordnete ihm das Haar. Es tat weh, ihn so zu sehen.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die beiden Feinde auf den schmalen Pfad in Richtung der steinernen Plattform einbogen. Sie kamen nur langsam voran, stachen und bissen sie doch immer noch aufeinander ein. Zudem waren sie offenkundig bemüht, nicht auf die ruhenden Einhörner zu treten.
Die Meister ruhen. Nicht wecken. Zumindest in diesem Punkt waren sie sich einig, die Ungeheuer und sie.
Was genau würde geschehen, wenn man sie weckte?
Sie starrte auf die geschlossenen Augen Kanuras. So gern hätte sie noch einmal einen Blick daraus erhascht. Diese großen, goldbraunen Augen, deren Iris so aussah, als wäre sie ein wenig zu groß, als ließe sie kaum Platz für das Weiß des Augapfels. Er hatte sie genervt angesehen, manchmal auch besorgt.
Konnte er sich diesmal heilen? Sicher nicht, wenn er nicht bei Bewusstsein war. Sie musste ihn wecken. Und dann musste sie ihm ihr schönstes Lied singen. Solange man sie ließ.
Das würde nicht mehr lange der Fall sein. Sie
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