Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
Vom Netzwerk:
gewesen sein musste. Oder?
    Sie wusste es nicht mehr. Es war, als hätte jemand ein Loch in ihre Erinnerungen gestanzt, ebenso glasglatt wie diese Höhle.
    An irgendeiner Stelle musste sie eine falsche Entscheidung getroffen haben. Vielleicht nur eine kleine Entscheidung, wie die, nicht mit Kanura und Edoryas durch die Landschaft zu streifen, sondern allein irgendwohin zu gehen. Ganz allein. Vielleicht war es auch eine größere Entscheidung gewesen, wie die, alles dafür zu tun, dass die Dinge anders werden würden.
    Ganz anders. Weil es so, wie es war, unfair war. Und weil sie wollte, was sie wollte. Und sie wollte so vieles. Daran zumindest konnte sie sich erinnern.
    Oder war das ein fremder Gedanke gewesen? War sie hier, weil ein anderer es so wollte? Da sie keine Ahnung hatte, wie sie hier wegkommen sollte, ergab auch das einen Sinn. Sinn. Das Wort zerplatzte, als hätte es keinen … Sinn. Sie sann nach. Doch es blieb sinnlos.
    Warum war es nur so schwer, Dinge zu erfassen? Das Leben war immer voller Wahlmöglichkeiten, man konnte sich so entscheiden oder anders. Wie ein Baum mit Ästen und Zweigen lagen die Optionen des Seins vor einem. Doch normalerweise gab es diese Fülle der Eventualitäten nicht, wenn man zurückblickte auf den Pfad, den man bereits genommen hatte. War es so gewesen oder anders?
    Vermutlich war es eine Art Wahnsinn, wenn man absolut nicht mehr wusste, von welchem Zweig des Ereignisbaumes man gekommen war – und warum. Warum? Sie meinte sich zu erinnern, dass sie sehr ärgerlich gewesen war. Auf Kanura. Oder auf dessen Vater, auf die ganze Fürstensippschaft, zu der sie nicht gehörte. Sie hätte so gern dazugehört. Kanura war immer Teil ihres Lebens gewesen, er und Edoryas.
    Bilder wirbelten ihr durch den Kopf. Sie war immer gut darin gewesen, Visionen aller bestehenden Möglichkeiten zu empfangen und auch weiterzugeben – zu leiten und zu verbreiten. Vielleicht war sie darin so gut wie die Fürstin. Vielleicht sogar besser. Deshalb war es unfair, dass sie nicht auch Fürstin werden sollte. Oder konnte.
    Konnte sie nicht? Konnte sie doch. Sie entsann sich, deshalb war sie hier. Hier war sie in der Mitte: Bindeglied, Bote und Berichterstatter, blickte mal auf diese Seite, mal auf jene, schickte Eindrücke und Neuigkeiten von hier nach da.
    An dieser Stelle verwirbelten ihre Gedanken erneut, und die Visionen drehten sich um den Mittelpunkt eines Jetzt, das sie nicht mehr richtig begreifen konnte. Ein Irrgarten der Gedanken.
    Vielleicht waren es die Lieder, die SIE immer sang. Diese Lieder waren wie Baumsirup, süß und verführerisch, doch auch klebrig wie Harz. Man blieb mit allen Gedanken daran haften und kam nicht mehr los, hing wie in einem kleistrigen Netz.
    Eryennis mochte die so schmerzhaft schönen Lieder nicht. Sie spürte die geballte Gewalt darin, eine gebündelte Macht, die sehr viel größer war, als sie einem einzigen Wesen zustehen sollte. Manchmal schien SIE mehr als nur dieses eine Wesen zu sein, das von hier, von dort, von vorne, hinten, oben oder unten plötzlich auf einen zukrabbelte. Man sollte vor einer Verbündeten keine Angst haben. Doch Eryennis fürchtete sich.
    Sie stöhnte verzweifelt auf und wünschte, ihre Wahrnehmung wäre begrenzt auf das, was die Menschen wahrnahmen. Wie einfach musste ihr Dasein sein, wenn nicht alles durcheinanderlief! Vielleicht war es falsch, sie aufgrund ihrer eingeschränkten Wahrnehmung als minderwertig anzusehen. Vielleicht waren sie vielmehr zu beneiden.
    Sie lauschte. Sie hörte:
    » Klingt das Wasser
    durch die Steine
    bin ich viele, bald nur eine.
    Verwirkt jene,
    die da träumen,
    friedlich lieb den Sieg versäumen.
    Sing mir ein Siegerlied,
    sing es im Tod noch mit.
    Diener und Schrate,
    tut, was ich euch rate.
    Geht hin für mich siegen,
    denn Frieden ist nichts als nur Lügen. «
    Die Worte ergaben – wenn überhaupt – nur einen furchtbaren Sinn. Eryennis stürzte von ihrer Lagerstatt, fiel fast über ihre eigenen Menschenfüße, stolperte durch die düstere Höhle, dorthin, wo der Ausgang sein musste. Raus. Sie wollte hier raus. Am Ausgang der Höhle erstarrte sie und erinnerte sich wie zufällig, dass sie nicht zum ersten Mal bis hierhergekommen war.
    Dicke Spinnweben verschlossen nach wie vor den einzigen Ausgang. Es war nichts Zartes an ihnen. Sie wirkten so klebrig wie die Klänge, die den Fels und Eryennis durchdrangen und ihr die Gedanken verleimten. Sie stand still, während echte und falsche Erinnerungen auf

Weitere Kostenlose Bücher