Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
bin ein erwachsener Tyrrfholyn – und wenn ich es vor Kurzem in Euren Augen noch nicht war, so gewöhnt Euch an den Gedanken. Ich habe heute getötet. Ich habe heute nur knapp überlebt. Ich besitze seit heute die Seele einer Nymphe. Nichts ist mehr so, wie es war. Wir werden bedroht. Vielleicht gibt es Krieg. Und der Einzige, der etwas über den Kampf mit den Uruschge weiß und zwar nicht nur in der Theorie – das bin ich. Nicht Ihr. «
Einen Augenblick herrschte erstarrtes Schweigen. Kanura konnte Perjanus Bestürzung spüren. Niemand sprach so respektlos mit dem alten Meister der Schanchoyi. Er spürte auch die Gefühle seines Vaters, irgendwo zwischen Zweifel, Besorgnis und Stolz.
Doch die Hofetikette war im Moment unwichtig. Das Einzige, was zählte, war, dass sie jetzt keinen Fehler machten.
Gemeinsam blickten sie hinunter auf den See. Es war still. Niemand rief mehr nach Kanura. Der tote Uruschge lag immer noch neben dem Wasser. Die Wasserfläche spiegelte harmlos den tiefblauen Himmel wider. Nichts rührte sich. Doch sie konnten alle spüren, dass etwas in der Abendluft lag. Gefahr hing wie ein Schatten auf dem Wasser. Kanuras Leberfleck brannte und verursachte ihm Kopfschmerzen.
» Gehen wir Eryennis suchen? « , fragte Kanura schließlich, der auf einmal wusste, dass das, was er so beinahe nebenbei verkündet hatte, die Wahrheit war. Er war hier der Meister. Doch er war auch klug genug, sich mit dem Weisesten der Schanchoyi und dem Fürsten der Tyrrfholyn abzustimmen. Trotzige Alleingänge waren etwas für Jungspunde. Er blickte mit gemischten Gefühlen auf den Toten am Wasser und fühlte sich plötzlich viel älter als noch am Morgen. Er hatte gesiegt, und doch hatte er verloren – seine Freunde, seine Unbeschwertheit und vielleicht sogar einen Teil seiner Freiheit. Im Krieg war niemand frei.
» Wir waren auf der Suche nach dir und nach Eryennis! « , brach schließlich sein Vater das Schweigen. » Dich haben wir gefunden. Und Eryennis werden wir hier nicht suchen. Nicht ohne weitere Unterstützung. Es gilt, umsichtig vorzugehen. «
Kanuras Auge zuckte, doch er nickte.
» Du hast vermutlich recht, Vater, auch wenn es mir das Herz zerreißt bei der Vorstellung, wir könnten ihr helfen – und tun es nicht. Vielleicht sollten wir wenigstens … «
» So ihr noch zu helfen ist, dann gewiss nicht an diesem See « , sagte Hra-Esteron bestimmt. » Dies ist ein böser Ort geworden. Ich spüre es in meinem Horn. «
Die Magie und Wahrnehmung des Hra war seinem Stand angemessen und anderen überlegen.
» Orte sind nicht von sich aus gut oder … « , meinte Perjanu und wurde sofort vom Fürsten der Tyrrfholyn unterbrochen.
» Dies ist nicht die Zeit für moraltheoretische Diskussionen, werter Meister der Schanchoyi. Spürst du nicht die Gefahr? Dies ist keine Ballade. Mein Sohn hat recht, die Zeit des Friedens ist vorbei. Nun müssen wir uns der grausamen Wirklichkeit stellen. «
Nach einem letzten Blick ins Tal wandte er seinen Blick zu den Bergen, die wie immer am Horizont aufragten, so hoch, dass weder ihre Gipfel noch der Himmel darüber zu erkennen waren. Sie waren hier viel näher als in Kerr-Dywwen, schienen noch höher, dräuender, lauernder. Das Wasser des Sees speiste sich aus einem Gebirgsfluss.
» Wer weiß, wo das Unheil herkommt « , murmelte er. » Wir täten gut daran, es herauszufinden, bevor es uns überrollt. «
» Wie viele es wohl sein mögen? « , fragte Kanura und sah wieder hinunter auf den See, der sich auf einmal von der Mitte her kräuselte, dem Ufer entgegen. Wie Schaum sprudelte etwas von unten nach oben.
» Möglicherweise zu viele! « , sagte Hra-Esteron und wich ein paar Schritte zurück, um gleich wieder nach vorne zu tänzeln. » Wandelt euch. Sofort! «
» Zu dritt könnten wir sie … « , Kanuras Vorderhufe berührten den Boden, und er schlug nervös mit dem Schweif, » …vielleicht besiegen. «
» Vielleicht auch nicht. Wenn die Uruschge auf einen Schlag den obersten Weisen, den Fürsten und den Fürstensohn des Reiches töten, dann haben sie diesen Krieg gewonnen, bevor er noch angefangen hat. «
Das Wasser im See brodelte.
» Aber wir können doch nicht einfach wegrennen! « , begehrte Kanura verzweifelt auf. » Wir wissen nicht einmal, was da kommt! Vielleicht sind es Nymphen? «
» In Truppenstärke? Ein Gewässer hat normalerweise eine Nymphe, und du sagst, sie ist tot. «
Perjanu wich zurück.
» Wir sollten … « , murmelte er.
Kanura
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