Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Nichts hat man dich gemacht. Ich bin eine Tyrrfholyn und weiß besser als du, was die Wirklichkeit ist. «
Das stimmte nicht, doch sie dachte nicht darüber nach, stach nur mit ihrer Hornklinge zu, mitten in eines der Augen und tief hinein in das wabbelige Tier. Die anderen Augen versuchten, nach der Wunde zu schielen. Das Wesen war nah genug, ihr den Arm abzubeißen – bis hin zur Schulter. Sie zog an ihrem Horn, doch es saß fest. Sie musste loslassen, doch sie konnte nicht. Ihr Horn. Der Schrat öffnete sein Maul.
Doch er schien verunsichert. Statt zuzubeißen, begann er zu sprechen.
» Ich bin « , sagte er und schien dann nicht weiter zu wissen.
» Ich bin « , wiederholte er.
» Du bist nicht « , gab Eryennis zurück und legte ihre ganze Kraft in diese Aussage; Magie und Wille zuckten durch ihr Horn. Es schien ihr, als würden die Flammen, die sie durchlitten hatte, durch die Worte schlagen.
Ein schmatzendes Geräusch, und Eryennis hielt ihre Hornklinge frei in der Hand. Nichts mehr war vor ihr, außer einer großen gräulichen Blutlache, die schnell zu Staub wurde, der in der Luft glitzerte. Der Schrat war geplatzt.
Eryennis lächelte, kicherte, lachte wiehernd. Sie hatte getötet. Wieder hatte sich die Realität verschoben, bot ihr keinen Anhaltspunkt mehr, darüber zu urteilen, was richtig war und was falsch.
Doch Schmerz war falsch. Und Mord war falsch. Und Unfreiheit war falsch.
Sie rannte, noch bevor sie gemerkt hatte, dass sie aufgesprungen war. Sie spürte die Gegenwart jener anderen Gefangenen – jener, die so leise sangen und nichts bewirkten. Sie war eine Tyrrfholyn. Das sollte sie zur Beschützerin jener machen, die leise und schwach waren. Irgendwann hatte sie das mal geglaubt, bevor alles anders geworden war.
Sie sog die Gegenwart der Gequälten ein. Dort musste sie hin. Sie hörte, wie sich die Schuppen an ihrem mähnelosen Kopf abspreizten, um genauer fühlen zu können. Jeden Augenblick erwartete Eryennis, wie SIE selbst sich ihr in den Weg stellen würde. Vielleicht würde sie dann geradeso implodieren wie der Schrat. Oder Eryennis würde die Grundlage für einen neuen, mächtigen Schrat bilden, aus dem SIE dann wieder viele neue Diener teilen konnte, die IHR der Vieläugigen neue Augen bieten würden.
Sie jagte die Gänge entlang, sehnte sich nach der Geschwindigkeit, die sie in ihrer anderen Form hätte erreichen können. Füße waren so unvollkommen und Menschenbeine so kurz.
Der Höhlenzugang lag etwas erhöht. Eryennis stolperte und schlug auf. Flammen platzten aus ihr heraus, und entsetztes Geflüster hub rings um sie an, ein Wehklagen und Weinen. Feuer war der Feind.
Sie zog die Flammen in sich selbst zurück. Warum sie das konnte, wusste sie nicht. Eine neue Fähigkeit, die sie ihrer Metamorphose verdankte. Sie fand sich auf den Fersen hockend wieder, blickte um sich, die Finger abgestützt, wie ein Panther vor dem Sprung. Eine weite Höhle war hier in den Berg getrieben, zwiebelförmig, bauchig, glasig glatt. Alles schimmerte blau und grün. Ein blauschwarzer Weiher glitzerte kreisrund im Zentrum. Erst auf den zweiten Blick nahm Eryennis die Wesen an den Wänden wahr und sprang erschrocken auf die Füße.
Hunderte. Tausende? Schmale, zierliche Wesen, durchscheinend in ihrer Schönheit, kaum sichtbar und doch von innen her leuchtend. Sie pulsierten in flüssigem Blau, schwach und dem Erlöschen nah. Manche, so konnte Eryennis sehen, waren bereits erloschen, hingen wie leere, dünne Seide an den Wänden der Höhle. Der Wind ließ sie leise flattern. Kleidung? Haare? Gebeine?
Sie alle hingen da, eng nebeneinander, übereinander, beinahe ineinander verwoben, wie alte Fetzen eines gigantischen Kleidungsstückes.
» Wer seid ihr? « , flüsterte Eryennis. Das Weinen und Klagen wurde marginal lauter, fand sich in ein Lied, das sich wie das Gurgeln einer Quelle in der Ferne verlor. Eryennis erinnerte sich an ein Lied, das SIE gesungen hatte.
» Singt das Wasser,
singt der Wind,
weiß man, dass der Krieg beginnt.
Stirbt die Nymphe,
stirbt das Horn,
ist ihr Kampf schon fast verlor’n. «
Nymphen. Dies waren also Nymphen – oder das, was von ihnen übrig war. Wesen aus einer längst vergangenen Zeit. Nach dem großen Krieg waren sie verschwunden.
Hier waren sie nun, eingesperrt und hilflos, gefangen im Netz der Macht.
Warum nahm man Nymphen gefangen? Wozu? Dann begriff sie. Der Zugang zu den Wassern von Talunys und vielleicht sogar anderen Welten. Er war hier. Man
Weitere Kostenlose Bücher