Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
dabei übernahmen.
SIE war Teil von ihnen gewesen. Dann waren sie Teil von IHR geworden. Jetzt war SIE frei. SIE hatte die Macht zu sich geholt und die Verbindung gekappt. SIE war nicht mehr viele. SIE war eine und alles. SIE war die Malicorn.
SIE lachte, als sie an die horntragenden Gäule dachte, die das, von dem sie glaubten, es erhebe sie über andere Wesen, nun nicht mehr hatten.
SIE vereinte die Macht eines ganzen Einhornvolkes in sich. SIE war unüberwindlich. Niemand kannte IHR Geheimnis. Es war IHR einerlei, ob die Menschen nördlich der Berge die magielosen Einhörner umbringen würden oder die körperlich überlegenen Einhörner die Menschen. Der Sieg war nur noch für SIE selbst wichtig, denn die Herrschaft würde nicht mehr an die Mardoryx übergehen, sondern IHR zustehen.
Aber es war Zeit, die Sache weiter voranzutreiben. SIE blickte auf die Schlacht im Süden und sah ein Innehalten, das SIE so nicht geplant hatte. SIE würde eingreifen müssen. Doch da gab es noch mehr, das IHR Eingreifen erforderte. Der Fürstensohn, das Menschenweib, die talentierte Verräterin. Sie hatten keine Bedeutung mehr, störten nur noch im Gefüge. Niemand durfte wissen, wer SIE war. Aus dem Verborgenen würde SIE siegen und herrschen wie eine Göttin.
Mit neuer Intensität strich SIE über die Saiten der Nachtharfe und sang IHREN Zaubervers:
» Ich bin die Eine.
Ich bin wie keine.
Über die Fluten
lass ich euch bluten,
werde euch kriegen,
herrschen und siegen.
Ihr werdet mein
ewig sein. «
Kapitel 92
Kanura stürzte aus dem brennenden Seitengang in einen überraschend kühlen Haupttunnel. Er fiel auf die Knie, eisern bemüht, Una nicht fallen zu lassen. Ganz vorsichtig legte er sie ab.
» Una! « , flüsterte er und strich ihr über die Wange. Sie lebte, doch sie war nicht ganz bei sich. Aus ihren Kleidern stieg Rauch auf. » Wach auf … «
» Kanura! « , unterbrach ihn Eryennis’ Stimme. » Lass das da liegen. Wir haben wenig Zeit. «
Er fuhr auf. Sein Blick ging zur Quelle der Stimme. Er schrak zurück. Das Wesen vor ihm hatte Eryennis’ Stimme, doch es sah nicht wie Eryennis aus. Irgendwo zwischen aschegrau und kohlenschwarz, die Augen rot, keine Haare, rudimentär menschlich an Gestalt. Und dann diese schuppige Oberfläche – Haut mochte er es gar nicht nennen. Das war nicht die schöne Eryennis, deren Körper er geliebt, deren Sinn für das Außergewöhnliche er bewundert und deren Ansprüche er manchmal etwas entnervend gefunden hatte.
Das war kein Tyrrfholyn. Und doch: In der Hand hielt sie ein Horn – ihr Horn. Er erkannte dessen Aura, doch seine schwarze Farbe entsetzte ihn.
» Wer bist du? « , fragte er.
» Ich war Eryennis. «
Er starrte sie entgeistert an, wollte seinen Sinnen nicht trauen, die alle, bis auf seine Augen, ihre Aussage unterstützten.
» Was, um Talunys’ willen, ist mit dir geschehen? «
Sie schnaubte verächtlich. » Ich bin durch die Flammen gegangen, durch die du und dein Menschenweibchen unbeschadet kamt. Mir hat keine Bardin gesungen und niemand stand auf der anderen Seite und leitete mich durch das Inferno. «
Er blickte sie an, versuchte, die ungeheure Schönheit, die ihn stets aufs Neue überwältigt hatte, an ihr zu sehen, und schalt sich dafür, dass seine Oberflächlichkeit das nicht zuließ. Sie sah furchtbar aus.
» Wir müssen hier raus « , sagte er. » Und in Kerr-Dywwen werden wir dich heilen. « Er versuchte, seinen eigenen Worten Glauben zu schenken.
» Ich kann nicht zurück « , sagte sie. » Ich habe die Ra-Yurich verraten. Einen Prinzen wollte ich. Du hast mich nicht gewollt. Also einen der Mardoryx. Dazu bin ich hierhergekommen. «
Sie sagte es ohne einen Anflug von Gefühl, als ob die Schuld zu groß wäre, als dass sich Bedauern noch lohnen würde. Kanura versuchte zu begreifen, was sie da sagte. Er verstand es nicht.
» Es war ein Fehler « , fuhr sie mit der gleichen flachen Stimme fort. » Der größte Fehler meines Lebens. Man muss für alles bezahlen. Ich kann nicht zurück. «
Jetzt erst fiel Kanura auf, dass sie ihr Horn immer noch über sich hochstreckte und mit der Spitze den obersten Rand des glühenden Tunnels berührte, aus dem sie eben gekommen waren.
» Ich habe dich gesucht « , sagte Kanura. » Ich wollte dich finden, dich und die Mörder von Edoryas. Weißt du, dass er tot ist? Die Uruschge … «
Sie unterbrach ihn. » Die Uruschge haben sich in der Person geirrt. «
Er starrte sie fassungslos an. Ganz langsam
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