Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
vermutlich gemeinsam verhungern würden, war kaum in ihrem Begreifen angekommen, da drang diese Stimme von jenseits des Felsens zu ihnen. Una traute der Stimme nicht. Doch Kanura schien sie zu erkennen, hatte keine Zweifel, wem sie gehörte.
Bei all dem, was bisher geschehen war, fand Una, dass Zweifel sehr wohl angebracht waren. In einer Welt, in der Monster sich als Menschen kostümierten und in der blutrünstige Wasserungeheuer plötzlich aussehen konnten wie man selbst, konnte eine Stimme von der anderen Seite einer Felswand alles und jedes sein.
SIE . Una erwartete SIE . Dabei wusste sie nicht einmal, wer SIE war, hatte nur zusehends das Gefühl, dass sie einen Teil dieser geheimnisvollen Feindin schon gespürt hatte – als sie im Thronsaal gesungen hatte. Una hatte den Gesang der Feindin in ihrem eigenen Lied gespürt, die Macht dieses Liedes wahrgenommen.
Sie selbst hätte von allein nicht nach oben entschwinden können. Man hatte sie wie durch einen Strohhalm hochgezogen, als wollte man sie aufräumen, damit sie nicht mehr störte. Jetzt war sie aufgeräumt und störte nicht mehr. Dass die Machtfülle, der Unas Lied ausgesetzt war, ganz nebenbei die Heilung ihres Liebsten mit bestärkt hatte, mochte Zufall sein. Allein hätte Una es nicht zustande gebracht.
Immerhin, er lebte. Und wie er lebte. Er lebte, dass sie ihn in jeder Faser ihres Seins spüren konnte. Seine Stimme vibrierte in ihren Gefühlen, sein Körper war von der Schönheit eines Kunstwerkes. Und seine Liebeskunst – meine Güte. Sie versuchte, Worte dafür zu finden: unerreicht, unglaublich, übersinnlich sinnlich, überwältigend, stark und doch ungeheuer zärtlich. Ihr Körper sang und summte immer noch im Nachhall ihrer Erfüllung.
Unas Erfahrungsschatz, was Sex anging, war nicht besonders groß, doch im Vergleich schien alles, was sie bisher erlebt hatte, einfach nichts zu sein.
Doch das spielte keine Rolle mehr, nun stand sie da und sang für Kanura, damit er genug magische Energie aufbringen konnte, um durch einen Gang zu kommen, der aussah, wie ein kristallines Spinnennetz. Una wollte da nicht durch. Aber der Gedanke, dann in dieser Höhle zu verdursten oder zu verhungern, war auch nicht attraktiver, auch wenn es vermutlich zumindest eine Zeit lang noch guten Sex beinhaltete.
Sie sang.
Von der anderen Seite sang niemand. Die klebrig schöne Stimme, die ihr Lied zur » Himmelfahrt « gewandelt hatte, war auf geradezu laute Weise abwesend. Doch das hieß nicht, dass SIE , der diese Stimme gehört hatte, nicht schon auf Una und Kanura wartete.
» Wer ist Eryennis? « , hatte sie geflüstert, bevor sie angeboten hatte zu singen. Die etwas betretende Geste ihres Tyrrfholyn verriet mehr, als ihr lieb war. Eryennis war Teil seines Lebens, war ihm wichtig. Für Eryennis vergaß er, dass SIE draußen auf sie lauern mochte. Eryennis war nicht » nur « ein Mensch. Eryennis war ein Einhorn. Wieder einmal unterlag Una einer formidableren Konkurrenz.
Doch es war nicht wichtig. Singen war wichtig.
Sie nahm ihren Rucksack auf. Dann sang sie.
Sie blickte auf das wirre Geflecht glasiger Streben, die luftig genug angeordnet waren, dass man einen Gang erkennen konnte, und eng genug von allen Seiten gesponnen waren, dass bestenfalls ein Vogel hindurchgepasst hätte.
Kanura hatte ihr Gesicht mit seinen großen, zärtlichen Händen umfasst und blickte ihr durch die Augen in die Seele. Er trank ihr Lied, und sie fing es immer wieder von Neuem an, während ihr die Sinne verschwammen und die Glieder schwer wurden.
Fast hörte sie zu singen auf, als die grauschwarz glasigen Streben plötzlich aufglühten. Sie spürte deren immense Hitze viel zu nah. Stein zu schmelzen war sicher nicht die Antwort. Niemand konnte durch Lava flüchten. Sie würden in Flammen aufgehen.
» Sing! « , schrie Kanura direkt in ihren Kopf, der sich daraufhin anfühlte, als würde er explodieren. » Sing! Hör nicht auf! Sing für uns, Una! Sing! «
Sie sang. Er hatte ihr wehgetan. Sie wollte es ihm sagen, aber außer dem Lied schien nichts mehr in ihr zu sein.
Wie geschmolzenes Glas wurden die Streben weich, hingen durch, dehnten sich langsam nach unten. Glühender Stein floss an den Wänden des Ganges entlang. Brennender Fels sammelte sich in lodernden Pfützen auf dem Boden.
Da konnte man doch nicht durch!
» Eryennis! « , stöhnte Kanura. » Das geht so nicht! Eryennis! Liebste Eryennis, tu was! «
Liebste Eryennis. Nun schien Una auch noch das Herz zu
Weitere Kostenlose Bücher