Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
begann er zu verstehen, was sie meinte: Er hätte sterben sollen.
» Hasst du mich so sehr? « , fragte er erschüttert. » Warum? Wir haben uns doch immer gut verstanden. «
Weiße Zähne in einem schwarzen Gesicht. Sollte das ein Lächeln sein?
» Ich hasse dich nicht, Kanura. Gehasst habe ich dich nie, und deinen Tod wollte ich auch nicht. Aber du hast nie verstanden, worum es ging. Du wolltest immer nur spielen. Immer nur Spaß haben. «
» Und worum ging es? « , fragte er. » Was habe ich übersehen, dass es Krieg rechtfertigt? Den Tod von Einhörnern und Menschen? «
» Macht « , flüsterte es hinter ihm. Una hatte sich in eine sitzende Position gequält und hustete röchelnd. » Es ging um Macht, mein Fürstensohn. Es geht doch immer um Macht. «
» Aber Einhörner interessieren sich nicht … «
» Die Mardoryx sind auch Einhörner, oder? « , unterbrach Una ihn. » Und deiner Freundin hier hat Macht mehr bedeutet als Liebe. Sehr … menschlich. «
Das schwarze Wesen zischte wütend. » Du solltest dankbar sein, dass du noch lebst, Menschenweibchen « , tadelte Eryennis giftig. » Hat er dich gut besprungen? Als Hengst hat er seine Vorzüge. «
» Ich bin sicher, du weißt darüber mehr als ich « , zischte Una zurück.
» Nicht jetzt! Es ist der falsche Zeitpunkt für Stutenbissigkeit! « , mahnte Kanura, als er begriff, dass hier völlig deplatziert Eifersüchteleien ausgetragen wurden. Dazu war keine Zeit. » Wir müssen hier raus. «
» Verstehst du nicht? « , fragte Una. » Das da, deine machtgeile Freundin, das ist SIE ! «
» Dummer Mensch! « , blaffte Eryennis zurück. » Du weißt nicht, wovon du sprichst. Ich war nur ein Pfand. SIE hat das alles geplant. SIE ist der Wille der Mardoryx. Ich dachte, SIE wäre ihr Unterhändler. Doch wir lagen falsch. Die Mardoryx … «
Kanura unterbrach sie. » Egal. Wie kommen wir hier raus? Du bist hier hereingekommen. Also muss es auch einen Weg nach draußen geben. «
» Ich kenne ihn nicht. Die Gänge ändern sich, wenn SIE singt. Ich habe eben erst zu suchen angefangen. Bislang habe ich nur eine Höhle mit gefangenen Nymphen gefunden. Sie können nur dort raus, wenn sie ihre Seele loslassen und zu Uruschge werden. Dann verschwinden sie durch eine Quelle. SIE hält sie gefangen. «
» Uruschge? « Kanura versuchte zu begreifen.
» SIE wird uns bald suchen. Wir müssen los « , sagte Eryennis. » Nimm dein Menschenweibchen und komm, bevor SIE uns findet. «
» Du magst Menschen wirklich nicht « , murmelte Una.
» Ich halte sie lediglich für irrelevant. Bisweilen freilich brauchbar, Bardin. «
Das Aschewesen, das einst Eryennis gewesen war, blickte sie nicht einmal an. Kanura zog Una auf die Füße.
» Aber Eryennis, niemand ist irrelevant! Diese Art zu denken ist einfach falsch. Die Mardoryx … «
» Was an dem Satz ›ich bin eine Verräterin und wollte die Tyrrfholyn an die Mardoryx verraten‹ hast du nicht verstanden, Kanura? « Die Stimme klang giftig, jedoch auch resigniert.
» Aber das ist nicht zu verstehen. Das ist … unbegreiflich! Warum? Das ist … «
» Das ist eine Tatsache « , unterbrach Una außer Atem. » Das Warum müssen wir auf später verschieben. Jetzt sollten wir vielmehr überlegen, ob wir deiner Freundin trauen können. «
Eryennis schnaubte verächtlich. » Sehr pragmatisch gedacht, Mensch. «
Kanura schaltete sich ein, bevor die Frauen in die nächste Runde des verbalen Schlagabtausches gehen konnten.
» Wo ist SIE ? Was tut SIE jetzt? Wie können wir SIE aufhalten? «
» Bis SIE nicht plötzlich da ist, weiß niemand, wo SIE ist. Was SIE tut, getan hat oder noch tun will, ist ein Rätsel. Und aufhalten? SIE ist die gesammelte Macht eines streitbaren und wehrhaften Volkes. Wie willst du ein ganzes Volk aufhalten? Noch dazu ohne Horn? «
Ein Schlag ging durch das Gebirge wie eine Explosion. Der Fels vibrierte unter ihren Füßen. Das seltsame Erdbeben verklang in Tönen, die kein Stein je zu machen in der Lage sein sollte, ein seltsame Art von Musik.
» Jetzt könntet ihr SIE selbst fragen, wenn ihr wollt! « , flüsterte Eryennis. » Aber vielleicht sollten wir einfach nur wegrennen. «
» Weißt du denn, wohin? « , fragte Una misstrauisch.
» Viele Möglichkeiten haben wir nicht. Hier lang oder dort lang. «
Aschestaub wirbelte um Eryennis, als sie nun ihr Horn von der Felswand nahm. Der Seitengang, aus dem Kanura gekommen war, veränderte sich sofort. In langen glühenden Fäden troff der
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