Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
hingelangen wollen. In die Höhle des Ungeheuers. SIE wohnte hier.
» Wir müssen hier raus! « , flüsterte sie ängstlich und klammerte sich an Kanuras kräftigen Arm. » Schnell! «
Zu spät. Schon war der enge Zugang übervoll. Einen Augenblick lang meinte Una, SIE würde gar nicht durch den Spalt passen, aber SIE passte hindurch wie Küchenschaben durch Spalten passten, die im Grunde zu eng für sie waren. Ein Kribbeln und ein Krabbeln, ein Dehnen und ein Zucken. Schon war SIE da.
Das weiß umrahmte, facettenäugige Gesicht war porzellanglatt. Der Blick war unergründlich, gebrochen durch die Vielzahl der einzelnen Sehorgane. Der Oberkörper wippte leicht auf der Konstruktion der vielen Beine. Sie kroch senkrecht die Wand hoch und blickte sie von oben herab an. Das spinnwebfeine Haar hing nach unten.
» Schön! « , sagte SIE . Es war ein Wort, das Una im Moment nicht einordnen konnte.
» Was willst du? « , fragte Kanura. Er stand mit erhobenem Haupt da, ganz Prinz. Falls er Angst hatte, so zeigte er es nicht.
» Vieles « , lautete die Antwort. » Ich war viele und will vieles. Jetzt bin ich eine und will alles. Und noch sehr viel mehr. «
Una hatte mit einer tatsächlichen Antwort nicht gerechnet. Doch warum sollte dieser menschliche Mund nicht reden können?
» Wer bist du? « , fragte Kanura.
» Ich bin der Klang vom Untergang. Ich bin der Tod, den ich euch bot. «
» Du bist die Meisterin der Schrate « , konstatierte Kanura kritisch.
» So viele habe ich mir gemacht « , erklärte SIE . » So schön, sie zu beherrschen. «
» Beherrschung ist etwas, das man zunächst nur für sich selbst lernen sollte « , sagte Kanura. Una erkannte, dass er eine Weisheit zitierte, an die er sich selbst kaum je gehalten hatte.
» Ich bin beherrscht worden. Nun herrsche ich « , sagte SIE und wiegte sich wabernd auf ihren Beinen. Die weißen Haare flatterten auf und ab. SIE schien Spaß daran zu haben, mit IHREN unfreiwilligen Gästen zu sprechen. Ein fast sanftes Lächeln lag auf IHREN Zügen.
» Haben die Mardoryx dir die Macht gegeben? « , fragte Kanura.
» Sie haben sie mir geliehen. Geborgt und versorgt, mich und mich und sie und sie. Nicht gescheit, weil man Macht nicht verleiht. Nun gehört sie hier nur mir. «
» Die Mardoryx ruhen « , sagte Una und widerstand der Versuchung, einen nutzlosen Kurzreim anzuhängen.
» Die Mardoryx sind erwacht « , gab SIE zurück und lächelte. » Du hast sie geweckt, Bardin, Freundin, Feindin, Bild von dem, was ich einst war und nicht mehr bin. Schlimme Stimme biedrer Lieder. «
» Die Mardoryx werden ihre Macht zurückfordern « , sagte Kanura.
» Die Mardoryx verloren, was sie verliehen « , sagte SIE .
» Die Mardoryx werden … «
» Die Mardoryx sind nichtig, nicht mehr wichtig. Nichts weiter als eine Herde gehörnter Pferde. « SIE lachte. » Ich bin die Mardoryx. Ich bin alles, was sie wollten und konnten. Und ihr seid – Felsenstaub. Menschenfleisch. Fleischeslust. Dümmlichkeit. Nichts. «
» Was willst du von uns? «
» Nur eines noch: sterbt! «
Von oben näherte SIE sich den langen Saiten und griff in die Felsenharfe, deren tiefe Töne IHRE Stimme umrahmten wie kaum noch hörbare Bässe, die einem die Eingeweide zum Vibrieren brachten. SIE sang:
» Singt die Flamme,
brennt der Stein,
wird dein Sein verkohlt bald sein.
Bist du tapfer
oder feige,
geht dein Dasein doch zur Neige.
Werdet zu Asche hier,
ihr, die ihr kamt zu mir.
Maid ohne Jungfernschaft,
Hengst ohne Hörnerkraft,
s’ ist einerlei,
euer Leben ist vorbei. «
Una schrie schmerzerfüllt auf, als sie die Glut in sich spürte. Sie würde von innen nach außen verbrennen. Sie keuchte. Ihr heißer Atem kondensierte in der kühlen Höhle.
Kanura brüllte vor Zorn.
» Lass sie in Ruhe! « Er sprang hoch, als wollte er das Monster von der Decke fegen, doch SIE war zu hoch, unerreichbar, kichernd.
Und Una? Was konnte sie schon tun?
Singen war das Einzige, was sie konnte. Gegen ein Monster zu kämpfen war sinnlos, und Magie beherrschte sie nicht. Aber nichts zu tun war undenkbar. Und vielleicht würde ihre Musik Kanura helfen, wenn er wieder Kraft daraus ziehen konnte. Ohne seine Kraft war auch sie verloren.
Sie stürzte auf die andere Seite der Höhle, schleppte sich zu den kurzen Saiten, überlegte sinnlos, ob diese in Es-Dur gestimmt sein würden, und ließ ihre Hände darauf los, wie ein Blinder, der Farben mischen sollte. Sie stimmte in den Gesang ein, während ihr Magen
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