Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
übergoss Irene mit eisigen Fluten und riss ihr die Geige aus der Hand. Sie schrie, fasste nach dem Instrument, trat vor, um es noch zu erhaschen, begriff dann, dass sie wohl besser fliehen sollte, hinein in die Dunkelheit, in der sie blind sein würde.
Doch ihre Füße waren wie festgewurzelt zwischen den beiden Richtungen, die ihre Sinne gleichermaßen sinnlos einforderten. Etwas hob sich aus dem Weiher.
Kapitel 96
Kanura hatte nur eine Waffe, und die gehörte nicht ihm. Dennoch zog er jetzt blitzschnell die schwarze Hornklinge. Sie lag ungewohnt in seiner Hand, seltsam vertraut und fremd zugleich. Sie war ihm geschenkt worden, und doch war sie nicht seine.
Aber er spürte sie. Ein Bewusstsein seltsamer Zugehörigkeit durchfloss ihn, und er war sich gar nicht sicher, ob er das wollte. Sein eigenes Horn war verloren, der Verlust schrecklich und schmerzhaft. Und dieses Horn war so entsetzlich anders, war das Zeugnis von Verrat und Verderben. Er spürte Eryennis darin.
Er versuchte, sich von den übermächtigen Gefühlen freizumachen. Eryennis’ Horn. Sie mochte grausame Fehler gemacht haben, doch sie tat niemals etwas ohne Grund. Sie hatte ihm ihr Horn geschenkt. Was hatte sie damit bezweckt? Die Hornklinge war lang genug, um damit fast bis an die Höhlendecke zu reichen. Kanura sprang noch und schwang seine neue, unheimliche Waffe gegen das Wesen, das da kopfüber über ihm hing. Einmal sprang er, zweimal – ein dolchschwingender Recke, der das Ungeheuer über sich zur Strecke bringen wollte.
Es schwang links, nach rechts, wich vielbeinig geschickt aus. Weißes Seidenhaar wehte. In dem so erschreckend menschlichen Antlitz verzog sich ein perfekter Mund zu einem Zähnefletschen. Wesen, gleich welcher Art, sollten einem nicht von vornherein zuwider sein, doch dieses war es. Es verband den Ekel, den man vor krabbelndem Ungeziefer empfinden mochte, mit der Furcht vor einer Macht, die greifbar und fühlbar war und konzentriert übelwollend.
Böse. Einfach böse. Kanura klammerte sich an Unas Gesang, die immer wieder die gleichen Verse wiederholte. Einen Augenblick lang glaubte er, er würde wieder aus ihrem Gesang die Kraft zu seiner Magie holen müssen in diesem sicherlich letzten Kampf. Er fürchtete sich davor, ihr diesmal zu viel zu stehlen.
Sein Zögern war fatal. Etwas schoss aus dem kleinen Horn, das seiner Gegnerin aus der Stirn wuchs wie eine Verhöhnung der Einhörner. Kanura versuchte, dem plötzlichen Angriff auszuweichen, doch er war zu langsam. Seine fahrigen Ausweichbewegungen hatten nichts gebracht. Was immer da kam, hatte ihn erreicht – oder doch immerhin sein Horn.
Ein Faden. Ein Faden? Mit einem Blitz hatte er gerechnet, doch dies war nur ein dicker Faden. Er wickelte sich um die schwarze Waffe, klebte daran fest. Instinktiv riss Kanura daran, lehnte sich mit seinem gesamten Gewicht zurück, um sich von dem seltsamen Angriff zu lösen. Stattdessen wurde der Faden kürzer, als SIE ihn einholte und aufrollte.
Schon spürte Kanura, dass seine Füße den Boden nicht mehr berührten, er wurde emporgezogen, der Feindin entgegen. Wie konnte SIE so ungeheuer stark sein? Der menschliche Oberkörper wirkte eher zierlich, und die schwarzen Beinchen waren dünn.
Doch es waren ihrer viele. Sie hatten sich in den Spalten der Decke verkrallt und zogen den eigenen Körper näher daran heran – und den Kanuras ebenfalls.
Er brauchte nur loslassen. Dann würde er wieder auf dem Boden stehen. Er würde nicht einmal tief stürzen.
Loslassen. Er konnte es nicht. Das schwarze Horn mochte ihm nicht angeboren sein, doch er spürte, wie sehr es alles zusammenfasste, was ihm in den letzten Tagen geschehen war. Verrat, Verlust, Versagen – und Liebe. Er ließ nicht los. Stattdessen versuchte er, vor und zurück zu pendeln, um mit dem Schwung und seinem Gewicht den Faden durchzureißen. Hin und her. Abstoßen konnte er sich nicht, doch es ging auch so.
Una sang immer noch. Seine Bardin, seine Liebe. Er wünschte, er könnte sie sehen, doch sie war weit hinter ihm im Schatten.
Weiter wickelte sich der Faden um das Horn, verringerte den Abstand zwischen Kanura und dem Wesen an der Decke. Was würde SIE mit ihm machen, wenn SIE ihn erst mal zu sich hochgezogen hatte?
IHRE Macht war so deutlich zu fühlen, dass ihm davon fast übel wurde. Es war zu viel auf einmal, ein Miasma an magischen Sinneseindrücken, das einem schier den Atem nahm. Keine einzelne Kreatur sollte so viel Macht in sich vereinen. Der Wille
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