Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Welle von Flattern ging blau um die Höhlenwände, wie Fahnen in einem Stadion. Manchmal meinte Una, ein Gesicht zu sehen, doch in der Menge waren Einzelheiten schwer auszumachen.
» Du « , erklang es um sie herum, wispernd, hallend, ineinander und umeinander verwoben, » bist der Schlüssel zum Schloss, kein Mensch und kein Ross, mit dem Horn tritt nach vorn, spiel die Weise uns leise und berühre die Türe. «
Einen Augenblick lang stand Kanura nachdenklich da. Dann streckte er erneut seine Hornklinge vor sich aus. Langsam schritt er die Höhle ab wie ein Wünschelrutengänger. Er suchte etwas, das Schloss, die Tür, die Antwort.
» Una? « , fragte er. » Hast du noch deine Flöte bei dir? «
Una nickte. Sie hatte fast vergessen, dass sie immer noch den Rucksack umgeschnallt hatte. Sie zog ihn ungeschickt vom Rücken. Das Material war an der Außenseite teilweise geschmolzen, riesige Löcher waren hineingebrannt. Die angekokelten Gegenstände fielen ihr entgegen, als sie versuchte, den Sack zu öffnen.
Der Flötenkasten hatte gelitten. Das Hartplastik war blasig verformt. Mühsam riss Una daran und bekam ihn nicht auf.
» Vielleicht ist alles kaputt « , flüsterte sie traurig. Kanura wandte sich ihr zu und berührte den Kasten mit seinem Horn. Er sprang auf.
Es war seltsam, Kanura so souverän zu erleben. Bislang war seine Magie wenig auffällig gewesen. Nun schien sich das geändert zu haben.
Mit steifen Fingern nahm Una die Teilstücke der Flöte in die Hand. Sie sahen auf den ersten Blick unversehrt aus. Vorsichtig setzte sie sie zusammen. Dann blickte sie Kanura fragend an.
» Spiel mit ihnen. Begleite ihren Gesang « , sagte er.
» Aber ich kann sie kaum hören! «
» Finde dich hinein. Höre mit dem Herzen hin. «
Unas Hände zitterten. Sie war nicht in der Verfassung, um jetzt gut zu spielen. Ihre Finger fühlten sich an wie in Wollhandschuhen. Sogar zuhören war schwierig. Doch langsam formte sich eine vielschichtige Musik in ihr, die ihr durch die vernebelten und vergifteten Sinne floss. Fragmente von Sinn wuschen über sie hinweg.
» Keinhorn hat ein Horn, Malicorn hat verlor’n, ihr Krieg ohne Sieg. Denn nur weil du weißt, wie sie heißt, die Fessel zerreißt. «
Die Sätze waren polyfon gegeneinander verschoben, Wörter flüsternd übereinandergeschachtelt und schwer verständlich. Plötzlich erkannte Una das Muster. Vorsichtig setzte sie die Flöte an die Lippen und stimmte in die Musik mit ein. Sie schaffte es nicht, mit ihren tauben Lippen einen klaren Ton zu erzeugen, doch sie spielte. Die Worte der Gesänge sagten ihr wenig, aber das Gefühl hatte sich gewandelt. Die ganze Höhle war von Hoffnung erfüllt.
Kanura blickte Una mit großen Augen an und lächelte.
» Jetzt weiß ich es! « , flüsterte er und stach mit dem schwarzen Horn direkt in das Wasser des Brunnens. Dann flüsterte er: » Malicorn ist verlor’n, die Knechtschaft vorbei, ihr Nymphen seid frei! «
Da fielen die Flüsternden, stürzten und schwebten, kippten vorwärts von der Wand, an die sie eben noch gefesselt gewesen waren. Um Una herum glitten die Nymphen auf das Wasser zu. Sie tauchten lautlos darin ein, wurden Teil davon, verschwanden darin, wie blaue Schleier, eine nach der anderen. Der Gesang wurde leiser und dünner. Die Höhle wurde dunkler, verlor zusehends ihren blauen Schein.
Una sah, wie manche der Wesen sich bückten, bevor sie in den Fluten verschwanden. Sie ergriffen einen oder mehrere der blauen Steine, die auf dem Boden lagen, und nahmen sie mit sich.
Una spielte immer noch, doch ein seltsames Kribbeln machte sich in ihrer Magengrube breit wie eine Warnung. Sie begann sich zu fragen, ob sie gleich im Dunkeln dastehen würde, wenn die letzte der Wasserkreaturen verschwunden war. Sie begriff, dass sie zwar den blauen Schönheiten den Weg nach draußen gewiesen hatten, selbst aber immer noch im Berg gefangen waren. In einem Berg, in dem sie die Malicorn nicht besiegt hatten. SIE lauerte hier irgendwo. Vielleicht ganz in der Nähe.
Unas Augen suchten die von Kanura. Er stand immer noch am Brunnen, hielt sein Horn in die Fluten und hatte einen geradezu entrückten Gesichtsausdruck, während die Nymphen um ihn herum und an ihm vorbei glitten, während Schleier ihn streichelten und Musik ihn liebkoste.
In diesem Augenblick wurde sie ergriffen. Ohne sich noch wehren zu können, sah sie die Fluten auf sich zukommen. Das Wasser schlug über ihr zusammen, und es wurde dunkel.
Kapitel 101
Esteron
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