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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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prekärer Lage auf den Ästen balancierend, als inmitten eines Haufens von Mördern. Er hoffte, er würde so über die Ringphalanx der Feinde hinwegkommen, ohne von ihnen angegriffen zu werden. Er musste zu Enygme. Seine Frau und seine Herde brauchten Hilfe. Er konnte ihre Erschöpfung spüren, die aus dem Zentrum des Kreises zu ihm drang.
    Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, nach Kerr-Dywwen zu gehen, um von dort Verstärkung zu holen. Doch ihm selbst wäre es unmöglich gewesen, seine Frau und seine Herde im Stich zu lassen, um dann später mit einer neuen Truppe nur noch Rache üben zu können für ein Gemetzel, das er nicht verhindert hatte.
    Rache lag ihm nicht. Gemetzel auch nicht. Er unterdrückte den Zorn, der bei der Erkenntnis in ihm hochstieg, dass man ihn zu einem Krieg zwang, den er nicht wollte.
    Vorsichtig hangelte er sich von Ast zu Ast, balancierte mit den Füßen auf dünner werdenden Armen der Bäume, die sich unter seinem Gewicht bogen, hielt sich an Zweigen fest. Blätter raschelten, wenn er sich zu heftig bewegte, und er erstarrte jedes Mal, um das Geräusch wieder seiner persönlichen Stille unterzuordnen. Gleichzeitig sammelte er sich.
    Es war, als hülfen ihm die Bäume, auf denen er stand. Mit ihren Wurzeln drangen sie tief in die Erde, verankerten ihn mit Talunys. Er fühlte die Kraft seiner Welt in sich hineinströmen, spürte die Macht des Seins bis in die Fingerspitzen. Die Ra-Yurich waren nicht ohne Grund das Herrschergeschlecht dieser Welt. Ihre Verbindung mit Talunys war einzigartig. Sie war intensiv und direkt und , wie Esteron meinte , für ihn und die Seinen bestimmt.
    Die Re-Gyurim glaubten freilich, dass nicht die Vorherrschaft auf dieser Verbindung fußte, sondern vielmehr diese Verbindung eine Folge der Vorherrschaft war – wem immer diese zuteil war.
    Esteron erstarrte, als er direkt unter sich einen Uruschge ausmachte. Das zweihörnige Wesen rieb sich an dem Baum, auf dem Esteron stand, reckte seine Hörner nach oben, und blickte mit nachtaktiven Feueraugen in die Baumkrone. Ich bin ein Baum, konzentrierte Esteron seine Magie. Ich bin nur ein Teil der Äste und Zweige. Ich bin Schatten. Du siehst mich nicht.
    Er rührte sich nicht, überlegte, ob er schon weit genug gekommen war, um nun herunterzuspringen und den Feind zu töten, bevor dieser noch Alarm schlagen konnte. Er hüllte sich in seine Gedanken wie in einen Tarnumhang, spürte die Energie des Bodens durch den Baum in sich strömen. Gleich würde es sich entscheiden.
    Die glühenden Augen senkten sich, und der Uruschge trabte einige Schritte weiter. Mühsam atmete Esteron aus, als er merkte, dass er die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Er warf noch einen Blick nach unten. Hier tummelte sich mehr als nur ein Uruschge. In der Dunkelheit waren sie nur durch ihre Augen und ihre Bewegungen auszumachen.
    Er wollte nicht darüber nachdenken, was geschehen würde, wenn er jetzt fiel. Er bekämpfte die aufsteigende Furcht, indem er sich bewusst machte, dass andere in diesem Kampf noch viel mehr Angst haben mussten: Enygme, die müde war und verletzt und in hoffnungsloser Lage; seine Sippe, die bei ihren Gefallenen stand; Irene, deren Musik er längst nicht mehr hören konnte.
    Er kroch nun über die Äste des letzten Baumes vor der weiten Lichtung. Das ganze Ausmaß des Unheils, das vor ihm lag, brannte sich in seine Seele. Die Uruschge dicht hinter ihm zwischen den Bäumen. Die Verräter noch vor ihm.
    Dann sah er den Grauadler, begriff nicht, wie dieser in das Geschehen passte, sah nur, wie er hinunterstieß und wie ein grauer Blitz angriff – so dicht vor Enygme, dass Esteron glaubte, auch die Herren der Lüfte hätten sich gegen sie verschworen. Ein weiterer Feind?
    Nein, ein Verbündeter. Während der Grauadler noch ein zweites Mal nach unten stieß, um weitere Schrate mit seinen riesigen Krallen vom Boden zu klauben, verschwanden die pelzigen Feinde mit einem Mal, als wären sie nie da gewesen. Hatte der gigantische Vogel sie vertrieben, oder waren die schnappenden Monster plötzlich und unerklärlich aus dem Geschehen zurückbeordert worden?
    Doch es blieb keine Zeit, darüber nachzusinnen. Der Grauadler stand nur kurz vor Enygme, und Esteron konnte hören, wie er zu ihr sagte: » Ich schulde dir nichts. Das Land gehört dir, die Luft gehört mir, das Feuer gehört ihr, und das Wasser ist besetzt. «
    Mit diesen kryptischen Worten stieß er kraftvoll vom Boden ab und verschwand im Dunkel des

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