Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
die Dunkelheit.
Feinde. Das Konzept war ihm immer noch neu.
Dort hinten in den hohen Büschen versteckte sich etwas. Ein großes Lebewesen. Es war ihnen gefolgt. Kanura hatte es gehört und gespürt, Fetzen von Emotionen aufgefangen. War es ein weiterer Uruschge? Wo kamen die nur alle her?
Seine bisherige Erfahrung mit den Uruschge sagte ihm, dass ein solcher Feind ihn schon angegriffen, seine noch nicht völlig verheilten Wunden, seine Erschöpfung und seine eingeschränkte Bewegungsfreiheit in Menschengestalt ausgenutzt hätte. Doch was immer da war, folgte ihnen nur in einigem Abstand – bis jetzt.
Vielleicht sollte er sich wandeln, doch er glaubte nicht, dass Una eine weitere Überraschung verkraften konnte. Vermutlich hätte sie dann noch mehr Angst. Wenn er ehrlich war, ging sie ihm ziemlich auf die Nerven. Aber er hatte sie hierher mitgenommen, und so trug er nun die Verantwortung für sie. Die Tyrrfholyn hatten sich immer verantwortlich für ihre menschlichen Mitbewohner gefühlt, die schwächer waren und ohne Magie auskommen mussten. In den Liedern sowohl der Tyrrfholyn als auch der Menschen wurde erzählt, dass sie auf die Erkenntnis, plötzlich in einer anderen Welt zu sein, mit Furcht und Panik reagierten. In ihrer Welt gab es Einhörner lediglich in Legenden; schön, weise und mächtig – aber eben nicht mehr als Fabelwesen.
» Du bleibst hier! « , befahl er dem Mädchen. Sie starrte ihn entsetzt an, ihr Blick ging zwischen Kanuras Gesicht und seiner Hornklinge hin und her. Jetzt erst dämmerte ihm, dass sie glaubte, er würde sie damit angreifen. Wie unlogisch. Er hätte sie zuvor einfach leblos da liegen lassen können. Dann wäre sie längst tot. Die junge Frau konnte wahrlich nicht geradeaus denken. Warum um Talunys’ willen hatte er nicht eine retten können, die ein bisschen klüger war? Oder ein bisschen beeindruckender? Nicht, dass sie nicht hübsch war – sie war sogar sehr hübsch. Niedlich. Für einen Menschen.
Er senkte die Klinge und ging an Una vorbei, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Vielleicht war das falsch. Vielleicht würde er sich gleich im nächsten Kampf wiederfinden.
Ein Schritt, noch einer. Er kam der Gefahr näher. Aber er hatte einfach keine Lust mehr, sich verfolgen zu lassen. Manchmal löste man Probleme nicht durch Weglaufen. Die Kunst des sanften Nachgebens war Teil der philosophischen Diskussionen, denen Kanura gerne fernblieb, aber nichts für den Krieg.
» Komm da raus! « , rief er angriffslustig, obgleich er sich so gar nicht nach einem weiteren Kampf fühlte. » Komm raus da, oder es gibt Ärger! «
Das war keine wirklich erschütternde Drohung, aber er hatte nicht eben Übung darin.
Die Gestalt im Gebüsch bewegte sich. Kanura konnte nicht erkennen, was es war, doch es wirkte groß, größer als ein Mensch. Und ein Mensch würde sich nicht vor ihm verstecken.
Wieder tat er ein paar Schritte auf das Gebüsch zu. Ein nervöses Schnauben erreichte ihn. Uruschge oder Tyrrfholyn? Welches Einhorn hätte Grund, sich ihm nicht zu erkennen zu geben?
Welcher Uruschge hätte einen Grund, ihn jetzt nicht anzugreifen?
Die Hornklinge lag in seiner Hand wie angewachsen. Er würde kämpfen. Er spürte noch den Schmerz des letzten Gefechts und die Wunden, die ihm das vorletzte eingebracht hatte. Das Mädchen mochte Angst vor ihm haben, doch tatsächlich war er im Moment weder besonders stark noch besonders gefährlich. Einen weiteren Kampf wie die letzten beiden würde er nicht gewinnen können.
Er schob entschlossen den Unterkiefer vor. Weglaufen war keine Alternative.
Die Blätter des hohen Buschwerks rauschten. Gleich würde etwas daraus hervorbrechen. Kanura spannte all seine Sehnen und Muskeln an, um sofort reagieren zu können. Er musste schnell sein.
Dann brach etwas durchs Geäst, lief aber in die Gegenrichtung, fort von Kanura! Nur schemenhaft konnte er Umrisse im Dunkel erkennen. Dass der Verfolger groß war, hatte er schon gewusst. Auch die Huftritte, die im Galopp die steinige Erde trafen, waren keine Überraschung. Kräftig, vier Hufe. Ein Pferd, das wirklich nichts als ein Pferd war, hätte ihn gewiss nicht verfolgt. Die weitläufigen Verwandten hatten nicht die geistige Größe oder auch nur das Interesse, etwas Derartiges zu planen.
Sein erster Impuls war, hinterherzulaufen, um wenigstens einen genaueren Blick auf den Verfolger zu erhaschen, der da so ungeheuer schnell enteilte.
Doch dann würde er die junge Frau allein lassen
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