Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
müssen. Das wollte er nicht.
Er drehte sich nach ihr um.
Sie war verschwunden.
Kapitel 23
» Hra-Esteron! « , sagte Perjanu und benutzte bewusst den gesamten Titel seines langjährigen Freundes. » Ich zweifle nicht an Enygmes Fähigkeiten, aber war das – rein taktisch – ein guter Zeitpunkt, die Führung abzugeben? «
Die beiden Einhörner waren immer noch in ihrer Menschengestalt und befanden sich in der Bibliothek von Kerr-Dywwen. Schriftrollen und Bücher lasen sich besser, wenn man Hände hatte, dennoch gab es nicht nur Stühle und Tische, sondern auch Alkoven, in denen man gemütlich in Einhorngestalt die Aufzeichnungen der alten Balladen studieren konnte.
Die Bibliothek war eine Einführung der Menschen. Die Tyrrfholyn hatten ursprünglich alles in ihren Gedanken gespeichert und ihre Weisheiten und Gesänge mündlich weitergegeben. Die Menschen fanden diese Vorgehensweise unzuverlässig. Das war sie auch, zumal wenn man nur einen menschlichen Verstand besaß. Tyrrfholyn hatten jedoch, wie sie gerne anmerkten, die größeren Köpfe und konnten sich Dinge länger und genauer merken.
Dennoch hatte man die Einrichtung einer Bibliothek gefördert, denn genauer als jede überlieferte Erinnerung war immer noch das geschriebene Wort. Auch Einhörner waren nicht unfehlbar, konnten etwas vergessen oder durch eine persönliche Auslegung modifizieren. Wenn jede Generation nur ein wenig an der Erinnerung änderte, dann war irgendwann vom ursprünglichen Wissen nur noch ein Abklatsch da. Damit wollte man sich nicht mehr zufriedengeben.
So arbeiteten die menschlichen Archivare mit den Schanchoyi zusammen, halfen dabei, nach und nach alles aufzuschreiben, um es so unverfälscht zu erhalten.
Schrift war etwas, das die Menschen mitgebracht hatten. Zunächst hatten die Tyrrfholyn die Idee belächelt, dann aber die Vorzüge alsbald erkannt und für sich erschlossen. Inzwischen waren sie zu eifrigen Nutzern der Bibliothek geworden. Vereinzelt gab es die Meinung, das Wissen der Einhörner stehe nur diesen zu. Doch im Allgemeinen erfreute man sich an dem Austausch von Wissen, denn ein Dazulernen war dem offenen Geist vorbehalten, der Weisheit ebenso weitergab wie annahm. Und was die Kunde der Magie anging, so konnten die Menschen sie ohnehin nicht anwenden. Schließlich schrieben auch die Menschen ihr Wissen auf, um das, was sie aus ihrer jeweiligen Epoche an Kenntnissen und Liedern mitgebracht hatten, zugänglich zu machen.
Esteron blickte Perjanu nachdenklich an. Auch er hatte bereits darüber nachgegrübelt, ob seine Entscheidung klug gewesen war.
» Ich weiß es nicht « , gab er zu. » Es schien mir angemessen. Möglicherweise habe ich mich mehr von der Schmach des verlorenen Kampfes als von der Vernunft leiten lassen. Aber Enygme kann die Sippe führen – gerade so wie ich. «
» Doch du hast nicht damit gerechnet, dass sie dir eine nicht zu bewältigende Aufgabe gibt, mein Freund. «
Esteron zog eine Grimasse.
» Enygme weiß, dass ich den Tod nicht ungeschehen machen kann. Doch ich bin bereit, ihr zu glauben, … « Er hielt inne.
» … dass Kanura immer noch lebt? « , vollendete Perjanu den Satz zweifelnd.
» … dass es sich lohnt, alle Möglichkeiten offenzuhalten. Enygme sagt, sie würde es spüren, wenn er tot wäre. «
» Enygme ist eine Mutter. Sie wird immer hoffen, dass ihr Sohn noch lebt. «
Esteron wandte finster den Blick ab.
» Ich hoffe auch, dass er noch lebt, Perjanu. Er ist mein Sohn. Er mag wild und ungestüm sein und es durchaus an abgeklärter Weisheit und philosophischer Gelassenheit vermissen lassen, doch ich liebe ihn. Und was Enygmes Ahnungen angeht, so haben sie uns die Hinterflanken gerettet. Wäre sie nicht mit ihrer Truppe gekommen … «
Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann entschlossen fort: » Wir haben also durchaus einen logischen Grund, ihren Eindruck als Indiz zu nehmen und darauf aufzubauen. «
Der alte Schanchoyi lehnte sich in seinem kunstvoll geschnitzten Stuhl zurück.
» Hre-Hyron meint, Enygme hätte dir eine nutzlose Sonderaufgabe zugeteilt, um dich vor der Gefahr der Kämpfe zu schützen. «
» Hyron ist ein … « , Esteron atmete tief durch und zwang sich zu entspannen. » Er sieht unser aller Schwäche als seine Chance, die Macht in Kerr-Dywwen an sich zu reißen. Ich hoffe, er ist klug genug, um zu begreifen, dass ein Krieg der denkbar schlechteste Zeitpunkt für eigennützige Sippenpolitik ist. « Esteron schwieg einen Moment. » Er hätte
Weitere Kostenlose Bücher